© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/10 12. November 2010

Anklänge eines Gewissens
Der zweite Band der Briefe von Anna Seghers erschließt die Lebenswelten der kommunistischen Autorin
Jörg Bernhard Bilke

Der zweite Band der Briefe von Anna Seghers (1900–1983) vom Jahr des Arbeiteraufstand 1953 bis ins Todesjahr 1983, sechs Jahre vor dem Untergang des SED-Staats, ist zweifellos der politisch und literarisch aufschlußreichere als der erste von 2008 mit den Briefen 1924/52. Wenn man die 645 Seiten durchgearbeitet hat, dann ist man erstaunt, was die Autorin alles an Informationen über ihr aufregendes Leben preisgibt, wo sie doch bis zu ihrem Tod wegen ihrer „autobiographischen Enthaltsamkeit“ (Kurt Batt) gescholten wurde, woran dann auch eine 1965 von Christa Wolf geplante „Biographie der Anna Seghers“ scheiterte.

Nach welchen Kriterien soll man diese Fülle an Stoff bewältigen? Schon ein Blick in das Verzeichnis der Briefpartner zeigt, wie weitverzweigt der Kreis derer war, mit denen Anna Seghers in dreißig DDR-Jahren korrespondierte. Da war zunächst ihr Sohn Pierre Radvanyi, der 1945 noch vor seiner Mutter aus dem mexikanischen Exil nach Paris zurückgekehrt war, um dort Physik zu studieren. Die Tochter Ruth Radvanyi war ihm 1946 nach Frankreich gefolgt, hatte in Paris Medizin studiert, war aber 1954 nach Ost-Berlin übergesiedelt, wo sie als Kinderärztin arbeitete.

Dann folgt die lange Reihe der Freunde, Genossen und Kollegen, darunter ihre einstige Mainzer Lehrerin Magdalena Herrmann von der „Höheren Töchterschule“, die ihre berühmte Schülerin um fünf Jahre überleben sollte, die Mainzer Schulkameradin Elisabeth Stimbert und die aus Frankfurt am Main stammende Kommunistin Lore Wolf, Exilgefährtin in Paris, die nach dem Einmarsch deutscher Truppen 1940 verhaftet und bis Kriegsende 1945 eingesperrt wurde.

Unter den Schriftstellern war sie befreundet mit dem Brasilianer Jorge Amado, den sie 1961 und 1963 mit dem Schiff besuchte, weil ihr Flugreisen aus Gesundheitsgründen verboten waren, und mit Ilja Ehrenburg, einem sowjetischen Juden, der 1954 mit seinem Roman „Tauwetter“ berühmt geworden war und 1945 durch seine Hetzaufrufe gegen die Deutschen unrühmlich bekannt wurde. Auch drei russischen Germanisten war sie freundschaftlich verbunden: Tamara Motyljowa, Lew Kopelew, mit dem sie aber den Kontakt abbrach, nachdem sein Lagerbuch „Aufbewahren für alle Zeit“ erschienen war, und Wladimir Steshenski.

Mit Georg Lukacs in Budapest und Ernst Fischer in Wien, den beiden marxistischen Literaturtheoretikern, hielt sie auch dann noch Verbindung, als der eine, weil er im Herbst 1956 für die „Konterrevolution“ in Ungarn gekämpft hatte, verhaftet worden, während der andere 1969 wegen seiner Kritik am „Panzerkommunismus“ in Prag 1968 aus der KPÖ ausgeschlossen worden war. Dem niederländischen Kommunisten Nico Rost, der 1943/45 ins Konzentrationslager Dachau verschleppt war, Autor des Buches „Goethe in Dachau“ (1946), der 1951 in Ost-Berlin verhaftet und ausgewiesen worden war, schrieb sie noch 1959 nach Amsterdam.

Ein weiterer „Schwachpunkt“ im DDR-Leben der Anna Seghers waren ihre Westreisen. Sie war süchtig nach immer neuen Eindrücken und litt darunter, daß sie 1950 ihren mexikanischen Paß hatte abgeben müssen. Dennoch war sie gegenüber dem einfachen „DDR-Volk“, das nicht reisen durfte, privilegiert und fuhr 1962 zur Frankfurter Buchmesse, später nach Stockholm, West-Berlin, Hamburg, Heidelberg, Zürich, Paris. Am 4. Oktober 1965 las sie in ihrer Geburtsstadt Mainz, wie immer, wenn sie dort auftrat, mit raunender Stimme die autobiographische Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ (1946). Zur Jahreswende 1956/57 fuhr sie nach Schierke/Harz, ins Sperrgebiet, wozu eine Sondergenehmigung nötig war. Fragen dazu stellte sie in ihrem Brief vom 24. Dezember nach Moskau nicht.

Ausgerechnet 1953 und 1961 war sie verreist

Anna Seghers war, daran besteht kein Zweifel, fest eingebunden in die Staats­ideologie des Marxismus-Leninismus, schließlich war sie Kommunistin, wenn auch mit wachem Blick für die wirklichen Zustände. Über den Aufstand vom 17. Juni, den sie nicht miterlebte, weil sie vom 15. bis 20. Juni dienstlich nach Budapest gereist war, äußerte sie sich zunächst zurückhaltend. Am 3. Juli 1953 sprach sie in einem Brief nach Moskau von „diesen zwei, drei verrückten Tagen“, vier Tage später, am 7. Juli, veröffentlichte sie in der Täglichen Rundschau eine Erzählung „An einer Baustelle in Berlin“, worin sie die SED-Version vom „konterrevolutionären Putschversuch“ unterstützte. Das tat sie dann auch in ihrem Roman „Die Entscheidung“ (1959), sechs Jahre später. Auch beim Mauerbau vom 13. August 1961 war sie keine Augenzeugin, weil sie für ein Vierteljahr nach Brasilien gereist war. Wie sehr sie freilich unter dem „Panzerkommunismus“ litt, zeigte ihr Brief vom 10. Dezember 1956 an Walter Ulbricht, von dem sie sich Rat und Aufklärung erhoffte bei der ideologischen Einschätzung des Ungarnaufstands.

Es ist bezeichnend für Anna Seghers, daß sie Menschen in Not half, wenn es im Bereich ihrer Möglichkeiten lag; wenn nicht, leitete sie die Angelegenheit an höhere Stellen weiter, wo ihr Wort Gewicht hatte. So schrieb ihr die Literaturwissenschaftlerin Trude Richter, die 1936 im Moskauer Exil wegen „trotzkistischer Tätigkeit“ zu zwanzig Jahren Arbeitslager und Verbannung verurteilt worden war, im Sommer 1956 aus Magadan/Sibirien. Nach ihrer durch Anna Seghers erwirkten Ausreise 1957 wurde sie Dozentin am Leipziger Literaturinstitut. Eingesetzt hat sie sich auch, wie ein Brief vom 6. Januar 1958 an Wieland Herzfelde bezeugt, für die Lyrikerin Christa Reinig, die 1964 nach Westdeutschland ausreiste. Auch für andere Nachwuchsautoren wie Christa Wolf, mit der sie befreundet war, aber auch für Peter Hacks, der 1962 wegen seines Stücks „Die Sorgen und die Macht“ heftig angegriffen worden war, und Volker Braun, dessen „Unvollendete Geschichte“ (1975) sie mit Begeisterung gelesen hatte, ist sie eingetreten. Am schönsten und längsten aber ist der Brief an die Germanistin Renate Francke vom 28. Februar 1963, wo sie auf sechs Druckseiten „die Entstehung meiner Antillen-Novellen“ erklärt. Unwirsch dagegen konnte sie reagieren, wenn es um die Verfilmung ihrer Romane und Erzählungen ging und ihr die Konzeption nicht gefiel.

Einer Frau ist noch zu gedenken, deren Schicksal ungewöhnlich ist: Maria Leitners. Die aus Kroatien stammende, in Budapest aufgewachsene Schriftstellerin, die in beiden Briefbänden genannt wird, ist irgendwo während des Krieges in Südfrankreich verschollen. Die Amerikaner hatten ihr, weil sie geborene Ungarin war, das Einreisevisum verweigert. Ihre unter Lebensgefahr erstellten Reportagen aus dem „Dritten Reich“, wohin sie mehrmals illegal aus dem Exil einreiste, hätten eine Neuauflage verdient!

In ihrer Ausführlichkeit und Reichhaltigkeit kaum zu würdigen sind der Anmerkungsapparat und das unentbehrliche Namensregister. Bei dieser Datenfülle sind Fehler nicht zu vermeiden. So ist mit dem „Pawel“ im Brief vom 29. April 1961 keineswegs „Pawel Kortschagin“ aus Nikolai Ostrowskis Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ (1934) gemeint, sondern „Pawel Wlassow“ aus Maxim Gorkis Roman „Die Mutter“ (1906), den Anna Seghers auch zitiert.

 

Dr. Jörg Bernhard Bilke ist Literaturwissenschaftler. Von 1983 bis 2000 war er Chefredakteur der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn

Foto: Anna Seghers als Präsidentin des DDR-Schriftstellerverbandes 1975 in Ost-Berlin: Wenn es drauf ankam, war sie linientreu

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