© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/10 12. November 2010

Vernes Jünger
„Steampunks“ vergöttern die Dampfmaschine: anarchistisch, mechanistisch, utopistisch
Toni Roidl

Wenn Sie sich über einen exzentrischen Gentleman wundern, der zu Vatermörderkragen und Zylinder eine Schweißerbrille trägt und irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein scheint, haben Sie vermutlich die Bekanntschaft eines „Steampunks“ gemacht. „Steam“ – das heißt auf englisch „Dampf“.

„Steampunks“ haben nichts mit bunthaarigen Bahnhofspennern zu tun; „Steampunks“ wollen mit Phantasie zurück in die Zukunft. Dieses Paradoxon ist für sie Programm: Sie wünschen sich in eine Zukunft, die vor über hundert Jahren erdacht wurde und nie stattgefunden hat. Ihre Idole sind Jules Verne und dessen Helden wie Phileas Fogg oder Kapitän Nemo. Und so wie diese bauen „Steampunks“ gerne schnaufende Apparate, die keinesfalls an das 21. Jahrhundert erinnern sollen.

Aber wie kommt man dazu, für die Viktorianische Epoche (1837–1901) zu schwärmen, die als das Zeitalter von Charles Dickens und Jack the Ripper doch als eher düster angesehen wird? Für „Steampunks“ aus zwei Gründen: Erstens hätten hier letztmalig in der Geschichte auch mutige Laien zum allgemeinen technischen Fortschritt beitragen können; zweitens habe die Technologie jener Jahre stets auch eine ästhetische Komponente besessen.

Darum lieben Steampunks „wundervoll monströse Maschinen, die leben und atmen und manchmal auch unverhofft explodieren“, erklärt der Steampunk-Protagonist Shannon O’Hare aus Berkeley/Kalifornien. Genietete Zylinder, poliertes Kupfer, Lederriemen – und vor allem: Dampf! So sieht für Steampunks „moderne“ Technik aus.

„Es ist realistische Nostalgie oder nostalgischer Realismus“, so recht weiß Steampunk-Erfinder Jake von Slatt das auch nicht, aber der Bastler hat sich einen Namen gemacht, indem er Computergehäuse und Gitarrenverstärker durch Einsatz von Holz und Messing auch für Neo-Viktorianer annehmbar gestaltet. Die Retro-Futuristen spielen Zukunftsmusik rückwärts.

Nicht nur in den USA, auch im alten Europa suchen junge und alte Individualisten das verlorene Flair einer vorindustriellen Gesellschaft ohne Massenfertigung. In dem deutschen Internetforum salon.clockworker.de treffen sich nicht nur tollkühne Männer in dampfenden Kisten, sondern auch Damen. Hier plaudert Teilnehmer „Archimedes Kolbencrantz“ in altertümlich geschraubter Sprache mit „Madame Mécanique“ angeregt über die Anmut technischer Details.

Eine Subkultur ist schon entstanden: „Dieselpunks“

Man empfiehlt sich Filmschnipsel historischer Aufnahmen im Internet, lädt sich zu Rollenspiel-Treffen ein, pilgert begeistert zu Zeppelin-Flugschauen oder weist sich freundlich auf Sendezeiten von Steampunk-Kultfilmen wie „Die Zeitmaschine“ (1960) im Fernsehen hin. Statt „viktorianisch“ geht es in deutschen Steampunk-Zirkeln „wilhelminisch“ zu. Gemeint ist dasselbe: die Sehnsucht nach einer entschleunigten Welt.

Obwohl die Steampunkszene noch taufrisch ist, gibt es bereits ein Sub-Genre, die „Dieselpunks“. Während die Dampf-Punks noch im Gaslicht-Zeitalter unterwegs sind, darf es für die Dieselrebellen schon etwas fortschrittlicher zugehen. Dieselpunks schwärmen für die Ästhetik der unförmigen „Tanks“ aus dem Ersten Weltkrieg und den deutschen Filmklassiker „Das Boot“. Ob Diesel oder Dampf: Beide Subkulturen wenden sich gegen konfektioniertes Design. Sie locken Abenteurertypen an, die sich mit kommerziell vorgestanzten, virtuellen Realitäten nicht zufrieden geben. www.clockworker.de

Fotos: Steampunker: Mit Zylinder und selbstgebautem Fluggerät, Steampunkerin: Im Korsett, bebrillt

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