© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Herbstgutachten des Sachverständigenrates
Regierungsrosinen
Bernd-Thomas Ramb

Helmut Schmidt spöttelte einst, er würde die Jahresgutachten des Sachverständigenrates ungelesen in den Papierkorb werfen. Als Diplom-Volkswirt konnte er sich das durchaus leisten. Die amtierende Bundeskanzlerin hält hingegen das jüngste Gutachten der „Wirtschaftsweisen“ demonstrativ dankbar in ihren Händen; trägt es doch den regierungswerbewirksamen Titel „Chancen für einen stabilen Aufschwung“. Angela Merkel wittert eine wissenschaftliche Unterstützung ihres Wunschdenkens, Deutschland wachse aufgrund ihrer Fähigkeiten aus der Wirtschaftskrise.

Allerdings sind die Gutachter nicht so optimistisch, wie der Titel zu versprechen vermeint. Der als Leseverweigerin kritischer Bücher ins Gerede gekommenen Kanzlerin wäre anzuraten, beim 415seitigen Herbstgutachten wenigstens über die Anfangszeilen hinauszukommen. Der freudig aufgenommenen Botschaft über ein diesjährig zu erwartendes Wirtschaftswachstum von 3,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr stellen die Gutachter nämlich eine deutlich schwächere Prognose für das kommende Jahr gegenüber: nur noch 2,2 Prozent.

Damit diese Zahlen richtig eingeordnet werden, verweist das Gutachten weiterhin auf den Niveauverlust der deutschen Wirtschaft in den vorangegangenen beiden Jahren. Mitte dieses Jahres hatte das deutsche Bruttoinlandsprodukt gerade einmal den Wert vom Dezember 2006 erreicht. Zudem erholt sich die Wirtschaft der Euro-Länder bei weitem nicht so deutlich wie die deutsche. Der bescheidene deutsche Aufschwung wird dort gelegentlich neidisch bis vorwurfsvoll kommentiert, die sich aufrappelnde Exportwirtschaft sogar als Bedrohung der heimischen Wirtschaft abgemahnt.

Der produktive Stillstand der anderen Euro-Länder geht einher mit deren ungebremster Neuverschuldung – mit entsprechender Gefährdung der gemeinsamen Währung. Nach Ansicht der Wirtschaftsgutachter drohen deshalb weitere Euro-Krisen, die die positive Weiterentwicklung der deutschen Wirtschaft mindestens genauso in Frage stellen wie die nach wie vor ausstehende Umsetzung dringender Reformen im Fiskal-, Sozial- und Arbeitsmarktbereich.

Wenn sich die Regierung nun hauptsächlich die Rosinen herauspickt,  dann ist das zwar mit dem Wunsch nach aufpoliertem Ansehen erklärbar, notwendig wäre jedoch das selbstkritische Studium der mahnenden Passagen. Die Krise ist beileibe nicht ausgestanden, das Schlimmste steht noch bevor – sowohl den scheiternden Euro betreffend, als auch die blockierten nationalen Reformen. Daher wäre der Titel „Risiken für einen stabilen Aufschwung“ hilfreicher gewesen, um der Regierung nicht auch noch Rosinen in den Kopf zu setzen.

Das Jahresgutachten 2010/11 „Chancen für einen stabilen Aufschwung”:  www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de

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