© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Von der Aschenzeit zur Knochenbox
Pubertärer Widerstand: Warum in verschiedenen Jugendkulturen der Tod eine so große Rolle spielt
Harald Harzheim

Warum hat die Jugend, der die Zukunft doch offensteht, bloß solch einen Hang zum Morbiden?“ fragen sich ahnungslose Eltern und Erzieher. Weshalb zelebriert der Nachwuchs jeder Generation mit Hochgenuß, was der erwachsene Mensch fürchtet und maximal verdrängt?

Tatsächlich bestätigt ein Blick auf verschiedene Jugendkulturen diesen Hang zur Nacht: Musikrichtungen wie Black und Death Metal, Dark Wave, Gothic samt zugehöriger „Grufti“-Bewegung transportieren Todessymbolik in den Alltag. Neben finsteren Klängen beschwören schwarze Kleidung, bleiches Make-up, dunkle Räumlichkeiten, Kerzen, Totenschädel und – wenn es hart kommt – ein Sarg als Schlafstätte die Präsenz des „ewigen Siegers Tod“ (Edgar Allan Poe).

Eine Berliner Kellerbar, im Kellergewölbe einer Friedhofskapelle errichtet, trägt den Namen „Knochenbox“ und erfreut sich lebhaften Zulaufs, Horror- und Splatterfilme sind seit Jahrzehnten Dauerbrenner in Kino und Videothek. Als in den Neunzigern der „Heroin-Look“ bei weiblichen Models in Mode kam, als sie abgemagert, bleichgeschminkt und mit schwarz umrandeten Augen über den Laufsteg stöckelten, warnte US-Präsident Bill Clinton vor den Gefahren einer „Kultur des Todes“.

Nein, solche Jugendkulturen zu denunzieren, nach der FSK zu schreien, Musik und Filme auf den Index zu setzen, bedeutet das Symptom zur Ursache umzudeuten. Heißt zu vergessen, daß die Jugend, und besonders ihre vitalsten Vertreter, immer schon vom Tod angezogen waren. Die Dichtung aller Länder und Epochen schuf Figuren wie Hamlet, Romeo, Werther oder die chinesische Romanheldin Blaujuwel. Jugendliche Wikinger legten sich während der Pubertät in die Asche des Lagerfeuers. Diese Phase des Erloschenseins war als „Aschenzeit“ ins Gesellschaftsleben eingeplant. Und zogen nicht vor fast hundert Jahren unzählige Schüler begeistert zur Schlachtbank des Ersten Weltkriegs? Kaum zu übersehen, daß ihr martialisches Delirium nur die Maske eines unterirdischen Todestriebes war.

Darüber wundern kann sich nur, wer die Last, den Schrecken der eigenen Jugend verdrängt, verharmlost oder gänzlich vergessen hat. Die Pubertät und die drauffolgenden Jahre erscheinen als endlose Übergangsphase. Das Gewohnte, die kindliche Weltordnung: mit einem Schlag ist sie dahin, ein neuer Platz im Leben hingegen noch nicht in Sicht. Neue Forderungen, Erwartungen, Sehnsüchte krallen sich in Fleisch und Hirn des Heranwachsenden. Wird er all das einlösen, dem standhalten können?

Der Körper begeht unheimliche Metamorphosen, ein Hormonchaos bricht los. Auch der erste Liebeskummer läßt nicht auf sich warten. Nichts scheint da unwichtiger als die penetranten Anforderungen von Schule und Elternhaus. Scham, Streß und Leere dominieren diesen Lebensabschnitt, das Ego sinkt in tiefste Keller. Man ist in dieser Welt nicht mehr zu Hause, sie ist fremd, absurd geworden. Die Fallhöhe von der Kindheit in die Pubertät ist unermeßlich, ein Sturz ohne Ende. Lieber ein finaler Aufprall mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Und hier lockt die Weisheit des Silen, jenes antiken Satyrs in der griechischen Mythologie, der auf die Frage des König Midas nach dem größten Glück des Menschen nur sagte: „Dieses größte Glück ist unerreichbar. Denn es hieße, nie geboren zu sein. Das zweitgrößte Glück jedoch wäre: Möglichst bald wieder zu sterben.“ Dieses „zweitgrößte Glück“ wird in finsteren Jugendkulturen symbolisch gefeiert. Der Tod hebt die mittelmäßige Ordnung der Erwachsenen restlos aus den Angeln. Deren Werte, Konsum und Karriere, tragen nur bei gleichzeitiger Verdrängung des „dicken Endes“. Mehr noch, zeugen Eltern ihre Kinder nicht (auch) in der Absicht, durch sie zu überdauern? Was aber, wenn gerade dieser genetische „Überlebensgarant“ sich die Maske des Todes überzieht? Dann ist die Hoffnung auf eigenen Fortbestand symbolisch torpediert, schlägt das Bekämpfte brutal zurück. Der Heranwachsende spürt diese Angst der Erwachsenen, erkennt im Tod einen mächtigen Verbündeten im pubertären Widerstand. Je morbider die Musik, desto größer der Erlösungsquotient, die Kettensäge im Splatterfilm destruiert mit dem entfremdeten Körper die oberflächliche „Lebensbejahung“ der Erwachsenen, zerfetzt deren – ohnehin löchrige – Ordnungsideen.

Mit zunehmendem Alter und sozialer Integration läßt die Thanatophilie nach. Nur wenige bleiben dem Gott ihrer Jugend treu, wie etwa der schwedische Regisseur Ingmar Bergmann. Der erklärte noch im hohen Alter, daß er sich vom Weltbild seiner Pubertät nie getrennt habe. Düstere Filme wie „Det sjunde inseglet“ (Das siebente Siegel, 1957), in dem der Tod persönlich auftritt, geben Zeugnis davon.

Der jugendlichen Thanatophilie entgegenzuwirken würde von der Gesellschaft verlangen, die eigene Todesverdrängung aufzuheben, die Reintegration des Sensenmannes, die Anerkennung des dionysischen Wahnsinns jenseits provisorischer Ordnungs- und Absicherungsideen. So geschah es im europäischen Mittelalter, so geschieht es immer noch bei den mexikanischen „Dias de los Muertos“ (Tage der Toten). Dort hat man den Tod zur Heiligen, zur Santa Muerte erklärt. Von ihr erbittet man sich Glück, Liebe und ein langes Leben. Soll heißen: Nur wer den Tod annimmt, kann die Existenz in voller Tiefe auskosten.

Foto: Gothic-Anhängerin: Zweimal im Jahr findet jeweils an einem Wochenende in der englischen Kleinstadt Whitby ein Gothic-Festival statt

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