© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Im Schatten des Vaters
Zwischen den Zeiten: Eine Erinnerung an den Komponisten Wilhelm Friedemann Bach
Wiebke Dethlefs

Als unscheinbare Grünanlage zeigt sich an der Alten Jakobstraße in Berlin-Mitte, in einem der am stärksten kriegszerstörten Viertel der Hauptstadt, der historische Luisenfriedhof. Eine 2002 errichtete Sandsteinsäule steht hier stellvertretend für die verschwundene Luisenkirche und die Gräber dieses Ortes, darunter jene von Friedrich Nicolai, Karl Gottlieb Suarez und das von Wilhelm Friedemann Bach. Dieser älteste Sohn Johann Sebastians war bei weitem der begabteste aller seiner Nachkommen; er war aber auch der, dessen Leben am wenigsten in konventionellen Bahnen verlief.

Am 22. November 1710 in Weimar geboren, zeigte er früh ein erstaunliches Talent als Cembalo- und Orgelspieler. 1733 wurde er Organist an der Sophienkirche in Dresden. Berufliche Verbesserung suchend, übernahm er 1746 die Organistenstelle an der Liebfrauenkirche in Halle und gleichzeitig das Amt des städtischen Musikdirektors. Doch war für den strengen Lutheraner Bach die Arbeit im pietistischen Halle nicht einfach. So versuchte er – vergeblich – in anderen Städten eine neue Anstellung zu finden. 1751 heiratete er. Den unangenehmen Dienst in Halle quittierte er 1764 und versuchte, als freischaffender Musiker zu leben. Dabei ließ er seine Frau allein zurück, als er die nächsten zehn Jahre in einem unsteten Dasein zubrachte. Mit vagabundierenden Theatertruppen reiste er durch Deutschland, veranstaltete hie und da mit mäßigem Erfolg Konzerte, gab Unterricht – und ließ sich endlich 64jährig 1774 in Berlin nieder, wo ihn Anna Amalia, Friedrichs des Großen Schwester, protegierte. Doch sie entzog ihm 1779 ihr Wohlwollen, weil er angeblich gegen den Hofkapellmeister Johann Philipp Kirnberger intrigiert habe. Völlig verarmt und heruntergekommen starb er am 1. Juli 1784.

Kein Wunder, daß sich Legenden dieses Sturm-und-Drang-Lebens bemächtigten. Bachs Stellung in Dresden soll durch eine Affäre mit der Tochter des Ministers Brühl ihr Ende gefunden haben, und während seiner Wanderjahre soll er mit einer „Zigeunerin“ übers Land gezogen sein. Albert Brachvogel schrieb 1858 einen populären, heute noch gut zu lesenden Roman über sein Leben, der allerdings auf Jahrzehnte hinaus das Bild des Komponisten als Prototyp des verkommenen Genies, als eines dem Wahnsinn nahen Außenseiters verfälschte.

Dabei stellte Friedemann nur einen Musikertyp dar, den es so eigentlich erst fünfzig Jahre später in Beethoven geben sollte. Konzessionslos die Etikette mißachtend, spielte er vor dem Adel nur, wenn er ein inneres Bedürfnis dazu verspürte – Auftragskompositionen lehnte er weitgehend ab.

Auf der Vorlage Brachvogels komponierte Paul Graener 1931 die Oper „Friedemann Bach“. Traugott Müllers Spielfilm von 1941, der ebenfalls auf Brachvogels Vorlage zurückgreift, wirkt deshalb zwiespältig. Die Hauptrolle spielte Gustaf Gründgens, Eugen Klöpfer den alten Bach. In diesem Film sind die realen Charaktere der Hauptfiguren gut wiedergegeben, doch gibt es sehr viele historische Ungenauigkeiten, große Teile sind reine Fiktion.

Wilhelm Friedemanns Brüder achteten ihn als den Fähigsten unter ihnen. „Er konnte unseren Vater eher ersetzen, als wir alle zusammengenommen“, war ein Ausspruch Carl Philipp Emanuel Bachs (1714–1788). Doch scheinbar wurde ihm der Schatten des Alten zum Verhängnis. Der Versuch, „besser“ als der Vater zu werden, ließ ihn an einem kompromißlosen Individualismus scheitern, für den die Zeit noch nicht reif war. Zum Verhängnis wurden ihm seine Überempfindlichkeit, seine jähen Stimmungsschwankungen und die Unberechenbarkeit seiner Entscheidungen. Gewisse kompositorische Elemente Johann Sebastians, wie dessen Originalität der thematischen Erfindung und subjektiven Ausdruck steigert er mit ungewohntem harmonischen Mut in ein für seine Epoche „Unerhörtes“ und Bizarres, wie es insbesondere die „Dissonanzen“-Symphonie F-Dur (Falck-Verzeichnis 67) zeigt. Kaum eine andere Komposition irgendeines Meisters aus der Zeit um 1760 wirkt so radikal. Es ist spürbar, daß der Komponist die Hochspannung seines Seelenlebens mit den musikalischen Mitteln der Zeit kaum bändigen konnte.

Demgegenüber verwundert in anderen Schöpfungen eine so tiefe Innigkeit der Empfindung, wie sie ebenso erst fünfzig Jahre später in der aufkommenden Romantik sich Platz schuf. Der größte Teil seines Schaffens ist verschollen. Janusköpfig steht Friedemann Bach zwischen den Zeiten, darin dem eine Generation älteren literarischen Bruder im Geist, Johann Christian Günther, sehr ähnlich.

Freundeskreis Wilhelm Friedemann Bach, Gisela Thielicke, Albestraße 12, 12159 Berlin, Tel. 030 / 8 52 64 23, E-Post: freundeskreis@wfbach.de

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