© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Der Flaneur
Im Fluß des Lebens
Baal Müller

Im Havelland gibt es unzählige Gelegenheiten zu beobachten, wie sich die Seele des Menschen im Wasser spiegelt. Da ist zunächst der Fluß als Urbild des Lebens, als Lebens- und Bewußtseinsstrom oder als Gleichnis der Biographie: Als Quell im Verborgenen entspringend, tobt er in seiner „Jugend“ über schroffe Felsen, verbreitet sich in der „Lebensmitte“, nährt und verbindet die durchflossenen Landschaften, um „im Alter“, von wo er auch kommt, ins Meer zu münden.

Steht man auf einer Brücke, befindet man sich gleichsam in der Gegenwart des Zeitstromes und fühlt sich gestärkt, wenn man flußaufwärts in die Vergangenheit, woher einem die Wasser zuströmen, schaut; der flußabwärts in die Zukunft gerichtete Blick erfährt Sehnsucht, aber auch unaufhaltsames Entgleiten. Nach unserem menschlichen Maß ist der Fluß ein und derselbe; und doch kann man bekanntlich nicht zweimal in ihn steigen, wie sich auch kein Augenblick wiederholt.

Die Havel ist ein behäbiger Fluß, der in seiner Gemächlichkeit bauchige Seen bildet, die in der Dämmerung, wenn alle Nähe fern wird, als kleine Meere erscheinen. Überwiegt dann die Weite des verschwimmenden „jenseitigen“ Ufers, so zieht das diesseitige bei Tageslicht unsere Aufmerksamkeit in die Tiefe hinab. Als gäbe es etwas Verborgenes zu erahnen oder zu erjagen, schauen oder spähen wir, je nach Gemütsart, unter die Oberfläche des Wassers, noch immer auf der Suche nach einer Kostbarkeit, derer wir doch längst nicht mehr bedürfen.

Mehr als die Weite, in der sich unsere Blicke verlieren, reizt uns die Tiefe, etwas aus ihr zu gewinnen. „Es redet trunken die Ferne / Wie von künftigem, großem Glück“, heißt es bei Eichendorff, aber in der Tiefe funkelt alles verlorene, verborgene Rheingold. In der Ferne liegt die Verheißung, aus der Tiefe steigt die Verlockung – auch wenn wir an einem Fluß in der sandigen Mark stehen.

 

Alles Gescheite ist schon gedacht worden. Man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken.

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)

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