© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Berlin ist nicht Ägypten
Paul Rosen

Gespenstische Ruhe am Westeingang des Reichstages. Dort zeigt sich – jedenfalls für Politiker – an normalen Tagen die Verbundenheit des Volkes mit seinen Vertretern. Die Leute nehmen mehrstündige Wartezeiten in Kauf, um in das Gebäude zu kommen. Was dann geschieht, blendet die Politik kollektiv aus: Die Besucher wollen auf die Kuppel, um den Ausblick zu genießen, aber keine Debatten hören, wo sich die Redner gegenseitig bestätigen, wie toll sie sind. Aber jetzt, nachdem eine unpräzise Terrorwarnung bei den deutschen Behörden einging, erhielt die Sicherheit Vorfahrt und wurde oberstes Gebot: Der Reichstag wurde, so wird den erstaunten Zuschauern erzählt, abgeriegelt und das ganze Gelände um das Haus mit der Inschrift „Dem deutschen Volke“ angeblich ein Hochsicherheitstrakt, um das Haus, die dort Tätigen und die Demokratie vor einem terroristischen Angriff zu schützen. Im Bundestag versicherte dessen Präsident Norbert Lammert (CDU), das Parlament lasse sich von niemandem an der Wahrnehmung seiner Aufgaben hindern, und Renate Künast (Grüne) versprach den um eine touristische Attraktion ärmeren Berlin-Touristen, das Dach des Reichstages werde wieder geöffnet.

Die Nachrichten waren voll davon, daß Polizisten in Berlin nur noch mit Maschinenpistolen durch die Gegend laufen und finstere Entschlossenheit ausstrahlen, jedermann vor dem Bösen zu schützen. Der Fernsehzuschauer mußte den Eindruck haben, daß erst die Bomben via Jemen und Namibia mit der Luftfracht kamen und die Terroristen unmittelbar darauf. Die Nation zitterte. Die Süddeutsche Zeitung ergötzte sich an deutscher Angst und zitierte einen Berliner wie folgt: „Ick jeh’ jetzt ma ’ne Weile nich ins KaDeWe, da is ja det Wort Westen drin, und uff den ham die det ja abjesehn.“ „Die“, so ergänzte die Zeitung, seien die Terroristen.

Wer genauer hinschaut, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. An der zentralen Zufahrt zum Reichstag stehen eine Reihe von rot-weißen Absperrgittern. Die Polizei hat einen mit vier oder fünf Beamten besetzten Kontrollposten eingerichtet, wo jeder Ankömmling seinen Hausausweis zeigen muß. Wer weiß, wie die Amerikaner ihre Einrichtungen sichern, wird schnell zum Ergebnis kommen, daß es sich am Reichstag lediglich um eine polizeiliche Demonstration handelt. Wenn (was hoffentlich nie passieren wird) bewaffnete Terroristen in einem mit Sprengstoff gefüllten Lastwagen hier durchbrechen wollten, würde ihnen das gelingen. Der Verzögerungseffekt wäre minimal. Ägypten-Urlauber wissen, daß im Land der Pharaonen jedes Touristendorf besser bewacht wird als der deutsche Reichstag. 

Selbst Bundestagsabgeordnete der Koalition wollen hinter vorgehaltener Hand nicht ausschließen, daß einigen Regierungsstellen die Terrordrohungen ganz gelegen gekommen sein könnten. So ließ sich tagelang erfolgreich von den erneuten Finanzproblemen der Eurozone mit einer Art sicherheitspolitischem Unterhaltungsprogramm ablenken. Ablenkung funktioniert allerdings nur zeitweilig.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen