© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Pankraz,
Zauberer Klingsor und das wahre Leben

Die Biologie, die Lehre vom Leben, hat die Physik als Leitwissenschaft der Gegenwart abgelöst. Gleichsam im Stundentakt legt sie neue, überraschende Einsichten vor, ohne doch je an eine endgültige, das Fach methodologisch abschließende Grenze zu stoßen. Hinter jedem erfolgreich erklommenen Gipfel werden sofort weitere, noch höhere Gebirge sichtbar – und laden zu weiteren Erkundungen ein. Es ist wie eine Reise in Klingsors Zaubergarten. Just eine solche veritable Klingsor-Reise unternimmt ein neues Buch von Pankraz, das soeben in der Edition Antaios erschienen ist.

Es trägt den Titel „Mutter Erde, Vater Gott. Vom Ursprung des Lebens und seinen Gestalten“ und wendet sich an ein breites Publikum. Die Frage „Was ist Leben?“ erregt ja die Anteilnahme faktisch jedes aufgeweckten Zeitgenossen. Filme aus der Welt des Lebens, der Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen, erzielen hohe Einschaltquoten und vermitteln nicht nur Belehrung, sondern stets auch Unterhaltung auf höchstem Niveau. Kein Zuschauer bleibt gleichgültig, jeder spürt, daß hier seine eigene Sache verhandelt wird.

Lebenswissenschaft ist immer auch Wissenschaft vom Menschen, von seiner Gesundheit, seinen Beziehungen zur Mitwelt. Jahrhundertelang war die Welt für die Wissenschaftler eingeteilt in Subjekt und Objekt, in den, der forschte, und das, was erforscht wurde, eben das Objekt, das Entgegenstehende. Doch bei der systematischen Ausfaltung der Frage „Was ist Leben?“ wurde den Forschern bewußt, daß diese gleichsam originäre Konstellation hier nicht galt, weil der Mensch selber Leben war, ein „Geschöpf“ unter anderen und vielleicht sogar „die Krone der Schöpfung“ (oder ihr Todeskeim, der Beginn ihres Untergangs).

Indem der Mensch das Leben erforschte, erforschte er nicht nur auch sich selbst, sondern er vollzog just dadurch eine bestimmte Lebensfunktion, er „lebte“. Objekt und Subjekt fielen zusammen. Bedeutende Lebensphilosophen haben diese Selbstbezüglichkeit, diese Identität von Leben und Erkennen, zu ihrem großen Thema gemacht. Es gab für sie nicht die Differenz zwischen Innen und Außen, Geist und Materie, Energie und Stoff, Denken und Handeln. Alle diese Unterscheidungen waren „situativ“, stammten aus den jeweiligen Zeitrhythmen des Lebens, für die es keine knappen Formeln oder mathematischen Gleichungen gab.

Ob und inwieweit die Sprache und die Methoden der modernen Biologie dem wahren Leben standhalten – eben dies zu erkunden ist das Anliegen des neuen Buches von Pankraz. Kapitel über die Entwicklung des Evolutionsgedankens, die aktuelle Gentechnologie oder die Versuche, das Leben zu schematisieren und in Arten, Gattungen und Ordnungen aufzuteilen, werden konfrontiert mit Beschreibungen des Lebens als „Geschichte“ (bei Wilhelm Dilthey), als „Existenz“ (bei Kierkegaard), als „Wille zur Macht“ (bei Nietzsche), als „élan vital“ (bei Bergson), als „Event“ (bei Whitehead).

Auch der Tod spielt eine Rolle in dem Buch, denn er ist unabwendbares Moment jeder lebendigen Gestalt. Gibt es nicht, so wird gefragt, ein Todesmoment und einen Schlußpunkt für das Leben insgesamt? Und ist es vielleicht der Mensch, der den Kollektivtod des Lebens hier auf Erden herbeiführt, ironischerweise gerade im Namen des Lebens, seiner Steigerung und definitiven Optimierung mit Hilfe kaltblütigster Kalküle und raffiniertester mathematischer Formeln?

Schon Goethe und Schelling im achtzehnten Jahrhundert haben vor der das Leben verarmenden und einebnenden, letztlich totmachenden Tendenz der rein quantitativ-mathematischen abendländischen Wissenschaft gewarnt. Ludwig Klages beschrieb später diesen „Geist“ der abendländischen Wissenschaft resolut als „Widersacher der Seele“. Mit Hilfe dieses Geistes hat sich das Lebewesen Mensch heute zum „Herrn des Lebens“ aufgeschwungen, und dadurch wurde zumindest für einen Teil der Menschheit das Leben tatsächlich „optimiert“, „verbequemlicht“. Doch die Bilanz für das Leben insgesamt geriet dabei in Schieflage.

Sämtliche Lebensphilosophen sind sich einig: Im Leben selbst wohnt der Trieb, sich grenzenlos auszubreiten und jede „Nische“ auf Mutter Erde zu erobern und auszufüllen. Neben und nach den Bakterien (und den Ratten) verfügt inzwischen der Mensch über die größten Potentiale zur Vermehrung seiner selbst, doch diese aktuellen Potentiale resultieren nicht aus der sogenannten (arterhaltenden) „Schwarm­intelligenz“, sondern sie sind ausschließlich „wissenschaftsgestützt“, wurzeln nicht spontan im Leben selbst. Und deshalb wohnt der Tod in ihnen.

Immer mehr Arten sterben aus, und der Mensch ist dafür verantwortlich. Bei anderen hat ihre Indienststellung durch den Menschen die genetische Variabilität außerordentlich verringert. Und auch innerhalb der Art Mensch selbst wird das Leben immer einförmiger, gestalt-ärmer, „gleicher“. Eine „ökologische Bewegung“ ist vielerorts herangewachsen, die „das Leben bewahren und retten“ will, und sie gewann auch politischen Einfluß. Doch ihre Wirkung ist – wie von Pankraz ausführlich gezeigt wird – überwiegend kontraproduktiv, verstärkt das Übel eher noch, statt es zu mildern.

Nun, das Buch „Mutter Erde, Vater Gott“ ist keine Kampfschrift und auch kein Ratgeber, wie man dem Leben besser helfen könnte. Sein Anliegen ist viel bescheidener. Es schildert „nur“ die mannigfachen Perspektiven auf das Phänomen des Lebens durch den Lauf der Zeiten, in der Hoffnung freilich, daß beim Leser durch die Lektüre die Empfindlichkeit und das liebende Interesse für die Vielfalt des Lebens vertieft werden.

Nachdenken über das Leben, sagte Pankraz oben, ist wie eine Reise durch Klingsors   Zaubergarten. Man kann darin wirklich auf böse Gedanken kommen, zumindest von der Fülle der Blüten und Düfte betäubt werden. Aber man kann das Gefilde auch, wie Parzifal bei Richard Wagner, am Ende hochbelehrt verlassen, erquickt und gestärkt für weitere Kämpfe des Lebens.

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