© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Das Traumland der Besatzungszeit
Eine kurze Geschichte der konservativen Intelligenz nach 1945 (I): Die Niederlage der Gesamtrechten
Karlheinz Weissmann

Die Aktualität des Konservativen erinnert in manchem an die Aufbruchsphase der Ökologiebewegung, Ende der siebziger Jahre. Das gilt auch für die Art und Weise, wie man zur eigenen Herkunft steht, in welches Verhältnis man zu den Vorläufern tritt. Und so wie die Grünen wenig oder nichts von Natur- und Heimatschutz wissen wollten, so stehen die neuen Konservativen der konservativen Tradition mit Unkenntnis oder bewußter Ignoranz gegenüber. Man sorgt sich, daß die Vergangenheit eine Last sein könnte, möchte den Charme des Noch-nie-Dagewesenen nicht verspielen.

Dafür mag es taktische Gründe geben, allerdings kann eine konservative Bewegung niemals absehen von dem historischen Zusammenhang, in dem sie steht, dem Ursprung, aus dem sie kommt. Mit Michel Foucault läßt sich sagen, daß es die Konservativen überhaupt kennzeichnet, den Anfang nicht nur als solchen zu vergegenwärtigen, sondern als Ergebnis eines Konflikts, daß es ihnen immer darum geht, „die vergessene Vergangenheit der wirklichen Kämpfe, der tatsächlichen Siege und der Niederlagen aufzudecken, die vielleicht verschleiert worden sind, die aber tief eingeschrieben bleiben“.

In unserem Fall liegt der Anfang mit seinen wirklichen Kämpfen im Jahr 1945, weil die deutsche Niederlage als eine Niederlage der „Gesamtrechten“ betrachtet wurde. Diese Auffassung vertraten nicht nur die innenpolitischen Gegner der Konservativen und die Siegermächte, die das Bündnis von „Reaktion“ und „Faschismus“ für das Desaster verantwortlich machten, dafür sprachen auch objekive Faktoren: der Verlust des konservativen Kerngebiets „Ostelbien“, die Schwächung des Adels nach dem gescheiterten Versuch einer „Gegenrevolution“ (Edgar Salin) und die Verstrickung von konservativen Einzelnen und Schichten in das NS-Regime, die Säuberungsmaßnahmen und die neue Praxis, Lizenzen für Parteien und Zeitungen an politisch genehme Kräfte zu vergeben, unter denen die Konservativen im Normalfall nicht zu finden waren.

Man darf allerdings bei notwendiger Betonung des Bruchs die Stärke gewisser Kontinuitätsmomente nicht übersehen. Das gilt jedenfalls für den außerpolitischen Bereich der Kultur, etwa die deutsche Bildungstradition, einen konservativen Faktor ersten Ranges. Die „Weimardeutschen“ (Barbro Eberan) hatten auch in der Zeit des Nationalsozialismus bestimmenden Einfluß auf bürgerliche Gesinnung, Schule und Hochschule behalten. Der Philosoph und Pädagoge Hermann Nohl, ein ausgewiesener Gegner des Regimes, 1937 zwangsweise emeritiert, 1945 mit dem Dekanat der Göttinger Universität betraut, erklärte unumwunden, daß es angesichts der Lage vor allem um Anknüpfung an die Überlieferung gehe, in der „Hoffnung, daß auch uns wieder einmal die Sonne der Ehre (…) scheinen werde“.

Die von Nohl nach dem Zusammenbruch gegründete Zeitschrift trug den programmatischen Titel Die Sammlung und bot vor allem liberalkonservativen Autoren wie Friedrich Meinecke, Hermann Heimpel oder Siegfried Kaehler ein Forum. Nohls relativ großer Bewegungsspielraum war darauf zurückzuführen, daß er es mit den britischen Besatzungsbehörden zu tun hatte. In deren Zone stand man den Konservativen etwas gelassener gegenüber als im Rest des Okkupationsgebiets. Eine Ursache dafür war das Vorhandensein einer welfisch-konservativen Strömung, die schon wegen ihrer betont evangelischen und anti-preußischen Ausrichtung geduldet wurde. Bereits im Juni 1945 erlaubten die Briten die Gründung einer „Niedersächsischen Landespartei“  (NLP), kurz darauf die einer kurzlebigen „Deutschen Konservativen Partei“.

Die Konservative Partei berief sich ideologisch auf ein „Konservatives“ oder „Manifest der Rechten“, das seit dem Sommer in verschiedenen Zirkeln kursierte. Der Text zeugte von überraschendem Selbstbewußtsein, was schon daran erkennbar war, daß man weder die Bezeichnung „konservativ“ noch die Bezeichnung „rechts“ scheute. Hier wurde nicht nur ein Anspruch auf Mitbestimmung, sondern auf Führung erhoben, der daraus resultierte, daß man den Untergang des Nationalsozialismus als Widerlegung der Massendemokratie und des Kollektivismus deutete, gegen den die konservativen Tendenzen immer gestanden hatten. Das „Manifest“ nahm zwar auch zu praktischen Fragen Stellung, wie der Bildung einer deutschen Exekutive, der föderativen Reorganisation des Reichs, der Wiederherstellung der Monarchie, aber im Zentrum stand doch die geschichtsphilosophische Verortung.

Das war kein Zufall, sondern darauf zurückzuführen, daß einer der beiden Autoren des „Manifestes“, Hans Zehrer, in den dreißiger Jahren als Chefredakteur der Tat zu den Aktivisten der Konservativen Revolution gehört hatte, in der NS-Zeit zur „inneren Emigration“ gezwungen war und sich nun in seinen Grundauffassungen bestätigt fühlen durfte. Allerdings zog sich Zehrer, nachdem Streitigkeiten zwischen den Befürwortern einer konservativen Parteibildung ausgebrochen waren, rasch auf sein eigentliches Feld, den Journalismus, zurück.

Mit solchem nüchternen Realismus stand er damals relativ allein in der konservativen Intelligenz. Denn das Traumland der Besatzungszeit bot weltanschaulichen Phantasien ein weites Feld, und es schossen nicht nur linke, radikaldemokratische, liberale oder existentialistische Utopien ins Kraut, sondern auch konservative. Stellvertretend sei auf Ernst Jünger hingewiesen, der seit der Veröffentlichung der Friedensschrift zwischen Weltstaatsvisionen und einem neuen Tauroggen schwankte, der Politik überhaupt abschwor, während er gleichzeitig Kontakt zu seinem alten Freund Ernst Niekisch aufnahm, Schulhaupt der Nationalbolschewisten, für die Deutschen bestenfalls eine staatliche Minimallösung erwartete und seine Auseinandersetzung mit religiösen wie esoterischen Fragen verstärkte.

Das Nebeneinander von individualistischem Pathos und Rückbesinnung auf den tradierten Glauben bei Jünger war durchaus typisch und erklärt auch, warum es in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre schien, als ob eine christliche Renaissance bevorstehe. Insbesondere der Katholizismus profitierte von der größeren Distanz zum Nationalsozialismus.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich das Entstehen und Erstarken einer betont katholisch-konservativen Linie. Die seit 1946 erscheinende Zeitschrift Neues Abendland war deren sichtbarer Ausdruck, ein Organ scharf antitotalitärer Ausrichtung. Seit 1949 wurde im Umfeld von Neues Abendland die „Abendländische Akademie“ gegründet, die erste im eigentlichen Sinn konservative Kultureinrichtung des Nachkriegs. An den Tagungen nahmen auch bekannte Persönlichkeit des evangelischen Bereichs teil, sofern sie wie Wilhelm Stählin, Karl Bernhard Ritter oder Hans Schomerus die Grundauffassung teilten, daß es angesichts der historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts um die Rettung des Abendlandes gehe.

Weiter spielte für den Einfluß der „Abendländler“ die enge Verbindung zu den Unionsparteien eine Rolle, Neugründungen, die nicht nur den früheren Zentrums-Anhängern und einem verunsicherten Bürgertum, sondern auch den Konservativen Heimat bieten wollten. Selbstverständlich wußte man in diesem Lager, daß die Integration in eine Volkspartei mit starker konfessioneller – das hieß: katholischer – Prägung Zugeständnisse verlangte, aber die schienen hinnehmbar angesichts der überraschenden Schwäche der SPD, der Perspektive langfristiger Machtausübung und der Notwendigkeit, auf die sowjetische Bedrohung angemessen zu reagieren.

Die ab 1948 einsetzende Entwicklung zum „Weststaat“ hat nicht nur der Nachkriegszeit im engeren, sondern auch den weitreichenden Spekulationen – konservativen und anderen – über die politische und kulturelle Entwicklung ein Ende bereitet. Wie ein Nachläufer der Visionen erscheint die berühmte Rede des deutsch-jüdischen Historikers Hans-Joachim Schoeps über die „Ehre Preußens“, gehalten am 18. Januar 1951 zum 250. Jahrestag der Gründung des Königreichs, in der er nicht nur den verfemten und von den Alliierten „verbotenen“ Staat rehabilitierte, sondern auch seiner Hoffnung Ausdruck gab, daß mit der Wiederherstellung des Reiches die Preußens einhergehen werde und eines Tages „deutsche Fahnen wieder wehen werden über Stettin und Breslau, Danzig und Königsberg“.

Den zweiten Teil dieser auf insgesamt acht Folgen angelegten JF-Serie des Historikers Karlheinz Weißmann lesen Sie in der nächsten JF-Ausgabe.

Foto: Wurzelgeflecht: Eine konservative Bewegung kann niemals absehen von ihren Ursprüngen

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