© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Archetyp des Suchenden
Parzival, Odysseus, der Heiland: Eine Erinnerung an den heute weitgehend vergessenen Dichter und Übersetzer Albrecht Schaeffer
Harald Harzheim

Wie ist Bildung möglich in einem Zeitalter ohne Leitstern und Verbindlichkeit? Woher die Kriterien nehmen, woher das Vor-Bild für die Aus-Bildung eigener Persönlichkeit?

Diese Frage, seit Mitte des 19. Jahrhunderts ins kollektive Bewußtsein drängend, stellt auch den Fluchtpunkt von Albrecht Schaeffers Werk. Am Bildungsroman festhaltend, schlug er seiner Zeit drei Leit-Archetypen vor: mit dem gigantischen Versroman „Parzival“ (1922), einer Übersetzung der „Odyssee“ (1927) und seinem Opus magnum, dem dreibändigen „Helianth“ (1920/24), dessen Titel sowohl auf die Pflanze Helianthe wie auf Christus, den Heiland (Heliand) verweist. Erzählt wird darin die Geschichte des Prinzen Georg Trassenberg, der nach unzähligen Zweifeln und Umwegen zur Übernahme der Regierungsverantwortung heranreift. Schaeffers Bildungs-Archetypen sind die eigenständig Suchenden, die zuletzt auch finden: den Gral, das heimatliche Ithaka, den Herrscherthron.

Am 6. Dezember 1885 im westpreußischen Elbing geboren, begann Schaeffer früh mit Lyrik im Stile Hölderlins, Georges und Hofmannsthals. Zunächst im Selbstverlag erschienen, erregte sie die Aufmerksamkeit von Stefan Zweig, der einen Kontakt zum Insel-Verlag herstellte. Das ermöglichte Schaeffer eine Existenz als freier Autor.

1915, während des Ersten Weltkrieges, publizierte er „Des Michael Schwertlos vaterländische Gedichte“. Ein Beispiel dafür, daß die Bildungs-Archetypen keineswegs nur aus tradioneller Mythologie entstammen müssen. Der fiktive Autor wird im Vorwort als rastloser, dennoch heimatverwurzelter Dichter vorgestellt, der kürzlich der TBC erlegen sei, während Schaeffer sich als Herausgeber des literarischen Nachlasses präsentiert. Aufgrund des Leidens nicht an Kämpfen beteiligt, „schwertlos“ geblieben, habe er sich hochemotionale Kriegszenarien, Kämpfe und Lazarett-Szenen lyrisch ausgemalt. Fiktive Stahlgewitter als Kompensation eines Sterbenden. Martialische Ekstase steht neben Verzweiflung, Melancholie und Idylle. So heißt es in „Der Genesende vor der Landschaft“: „Täler des Harzwalds! Berge ernster Tannen, / Ihr ruht um mich, und Himmel ruht auf euch. / Es rauscht der Quell, die Wolke eilt von dannen, / Und Winde lächeln himmlisch im Gesträuch.“

In den zwanziger Jahren, nach dem Roman „Helianth“, steht Schaeffer gleichrangig neben Thomas Mann. Wie ein Vulkan spie er Unmengen an Ideen, komplexen Handlungs- und Sprachstrukturen auf Tausende von Seiten, experimentierte mit freier Assoziation und Wortspielen. Kurzum, Schaeffer öffnete sich der literarischen Moderne, wie seinerzeit von Döblin, Joyce oder Céline vertreten.

Manch Kritiker stöhnte wegen der „Überfülle“, der „Überwältigung an Stoff“, der „kinohaften Handlungsüberstürzung“. Sein überschäumendes Unbewußtes ließ Schaeffer Kontakt zu Sigmund Freud suchen, der ihn als „meinen Dichter“ anredete. Schaeffers Kritik an Freuds Theorie von der Kultivierung des Feuers trieb den Gründer der Psychoanalyse zu einer Revision.

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten erfüllte Schaeffer mit Ekel. Auf die Umfrage „Was denken Sie von der Jugend unserer Zeit?“ antwortete er: Nichts, da sie nichts besseres wisse, als „hinter einem brüllenden Schafsbock einherzutraben“. Er sah ein schreckliches Schicksal über das deutsche Volk hereingebrochen, dem er sich zunächst nicht entziehen wollte. Erst 1939 emigrierte er in die USA, um seine schulpflichtigen Kinder nicht länger „dem nationalsozialistischen Gift auszusetzen“.

In New York gründete er mit seiner Frau, finanziell unterstützt durch Thomas Mann, ein Heim für Emigrantenkinder: Ein Zuhause, ein „Ithaka“ schaffen für die Gestrandeten, Suchenden dieser Welt, auch darin blieb er seiner Literatur treu. Nach dem Tod seiner Frau mit der Arbeit im Kinderheim überfordert, kehrte er 1949 nach Deutschland zurück. Was er dort vorfand, das ließ sich nicht mehr in Sätzen sagen, lediglich in Satzfetzen frei assoziieren: „Nur hinsacken ... vergasen ... alles kaputt ... ganze Haus - ganze Stadt - ganzes Land - alles hin - Kindheit - Vaterland - - Besser, man läge auch da …“, durchfährt es den Ich-Erzähler, einen KZ-Flüchtling, in Schaeffers letzter Kurzgeschichte „Die Verwechslung“ (1950). Am 5. Dezember 1950 erlitt Albrecht Schaeffer in der Münchner Straßenbahn eine tödliche Herzattacke.

Daß Schaeffer inzwischen vergessen ist, spricht keineswegs gegen ihn. Vielmehr ist sein Thema weiterhin brennend: Der „Schlangenblick des Nihilismus“ (Alfred Baeumler) durchbohrt das Abendland noch heute. Die Bereitschaft, sich mit Pseudo-Werten abzulenken, ist gleichfalls ungebrochen. Welche Bilder, Archetypen, Personen könnten da einen Ausweg weisen? Parzival? Odysseus? Der Heliand? In jedem Falle wird es weiterhin ein Suchender sein.

Der Nachlaß Albrechts Schaeffers befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach. www.dla-marbach.de

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