© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Der Flaneur
Berliner Zeitungsmann
Christian Schwießelmann

Jeden Morgen führt mich mein  Weg in die Redaktion über die U-Bahn-Station Yorckstraße. Mal eile ich unter den gleichnamigen Brücken hindurch, mal schlendere ich als lässiger Beobachter. Jeden Morgen treffe ich auf ihn. In grauer Tagesspiegel-Jacke trotzt er den Jahreszeiten und Witterungen. Seine runde dicke Brille verleiht ihm ein beinahe mitleidiges, sogar clowneskes Aussehen. Gleich dem symbiotischen Verhältnis von Baum und Pilz scheint er in seine Umwelt eingebettet zu sein: Unter den rostigen Yorckbrücken wirkt er wie ein Relikt aus dem Zeitalter der Dampfeisenbahn. Umbraust von Hektik und Wandel steht einsam, doch fest ein kleiner Berliner Zeitungsverkäufer.

Vor ihm ausgebreitet liegen Zeitungen, auf die ich stets einen hastigen Blick werfe. „Tote in Korea“, „Der Euro bricht zusammen“, „Paketbomben in Berlin“ – fast beschwingt steige ich in die U-Bahn. Der Zeitungsverkäufer lehrt mich Zufriedenheit. Seine Botschaften sind einfach: „In der Welt wohnt das Böse, doch habt keine Angst. Ihr seid nicht bedroht. Die Gefahr ist niemals konkret, sondern immer abstrakt.“ Seine Präsenz beruhigt mich.

Der Zeitungsverkäufer erteilt auch ökonomische Lektionen: Er postiert sich just an dem Ort, wo die Menschenströme der S-Bahn und der U-Bahnlinie 7 sich kreuzen. So kann er möglichst viele Kunden ansprechen. Vielleicht dient auch sein bescheidenes Äußeres nur dem Ziel, seinen Absatz zu steigern, so erwische ich mich eines Morgens bei einem häßlichen Gedanken.

Tatsächlich taugt der scheinbar traurige Zeitungsverkäufer zum Vorbild für alle jungen Sozialleistungsempfänger dieser alten Stadt. Ich vermute, daß sein Lohn – eine geringe Provision wahrscheinlich – keinen Neid zuläßt. Seit kurzem grüße ich den Mann. Und er erwidert meinen Gruß. Ohne es zu ahnen sind wir nämlich Brüder im Geiste. Ich produziere eine Zeitung, er verkauft sie. Ein und dieselbe Nahrungskette.  

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