© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

Das düpierte Imperium
Wikileaks: Die Offenlegung der US-Korrespondenz bringt die Diplomatie der Weltmacht in Bedrängnis / Gegner wie Hugo Chavez jubeln
Michael Wiesberg

Seit Wikileaks damit begonnen hat, Geheimberichte von US-Diplomaten ins Internet zu stellen, ist die Welt nicht mehr die gleiche. Dies gilt unabhängig davon, daß derzeit vor allem die USA versuchen, die Betreiber aus dem Netz zu verbannen, und den Wikileaks-Gründer Julian Assange mehr und mehr in die Rolle eines „Richard Kimble“ des digitalen Zeitalters gedrängt wird. Das, was bisher bekannt geworden ist, hat weltweit für Turbulenzen gesorgt.

Jedes Land kühlt sein Mütchen an der geheimen Korrespondenz der US-Diplomaten. Belgien und die Niederlande debattieren über die Präsenz von US-Atomwaffen auf ihrem Gebiet. Das bündnisfreie Schweden diskutiert über die enge Zusammenarbeit mit der Nato, und Österreich ist entsetzt über die Kritik an seiner Außenpolitik. Doch was in Europa „ein offenes Geheimnis“, grenzt anderswo an Gesichtsverlust und kann Folgen zeitigen. Etwa wenn Ägyptens neutrale Rolle in der Palästinafrage in Frage gestellt wird oder der Jemen selbstbewußt erklärt, daß das amerikanische Militär in seinem Land definitiv keine Jagd auf Al-Qaida-Terroristen macht, ist das Niveau ein anderes.

Zu den überraschendsten Erkenntnissen in diesem Zusammenhang dürfte das gehören, was im Hinblick auf den Iran bekanntgeworden ist. Die sunnitischen Staaten Saudi-Arabien, die Golfstaaten, Jordanien und Ägypten optierten gegenüber den Amerikanern für eine militärische Lösung gegenüber dem Iran. Der saudische König Abdullah plädierte gegenüber den Amerikanern dafür, den Iran anzugreifen und dessen Atomwaffenprogramm zu beenden. Und der Premierminister Katars ließ durchblicken, wie er den Umgang mit den Iranern beurteilt: „Sie lügen uns an, und wir lügen sie an.“

Überdies wird in den Dokumenten deutlich, daß manche arabische Staaten mit atomarer Aufrüstung drohen, wenn es dem Iran gelänge, Atomwaffen zu bauen. Israels Premierminister Netanjahu sieht in all dem Israels Position gegenüber dem Iran bestätigt. Seiner Ansicht nach bewiesen die Wikileaks-Dokumente, daß der ganze Nahe Osten in Furcht vor dem Iran lebe. Zum ersten Mal herrsche aus der Sicht von Netanjahu Einigkeit darüber, „daß die Hauptbedrohung der Iran und seine Aufrüstung“ seien. Dieses „gemeinsame Verständnis“ sei der „Schlüssel für einen regionalen Frieden“.

Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad mochte nicht an die Authentizität der Dokumente glauben. Er erklärte, „die Länder in der Region“ seien „miteinander befreundet“ und mutmaßte, daß die Datenweitergabe durch Wikileaks „organisiert“ sei. Ahmadinedschad unterstellte der USA, selbst in die Veröffentlichung der Dokumente verwickelt zu sein. Irans Präsident zeigt sich sicher, daß die Dokumente „keinen Einfluß auf die Beziehungen der Länder untereinander“ haben werden.

Daß das „Mullah-Regime“ in Teheran immer wieder für Überraschungen gut ist, zeigen die Erkenntnisse der „Iran Watcher“, die an den US-Botschaften in Staaten postiert sind, die geographisch an den Iran grenzen. Offensichtlich hat Teheran, so berichtete Spiegel-Online, die USA bei der Bekämpfung des Drogenhandels, der insbesondere aus Afghanistan und Pakistan ausgeht, über „Mittelsmänner“ zur Zusammenarbeit aufgefordert. Aufgrund der massiven Drogen- und Flüchtlingsprobleme sei die Zeit für eine Kooperation reif.

Die Erkenntnis, daß der Iran offensichtlich der unbeliebteste Staat im Nahen und Mittleren Osten ist, dürfte für den türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdoğan wenig erfreulich sein, bemüht sich doch die Türkei seit einiger Zeit um gute Beziehungen mit Teheran. Diese Beziehungen sollen, so der Tenor einer bekanntgewordenen Kabelbotschaft, durch ein Pipeline-Projekt weiter intensiviert werden. Deutlich wird anhand der Depeschen, in welchem Maße die Amerikaner über die türkische Außenpolitik, die sich immer weiter von US-Vorstellungen wegentwickelt, frustriert oder gar wütend sind.

Keine Illusionen mehr macht man sich wohl über das türkisch-israelische Verhältnis: „Unsere Gespräche mit Kontaktpersonen innerhalb, aber auch außerhalb der türkischen Regierung ... scheinen zu bestätigen“, so eine Depesche vom 27. Oktober 2009, „daß die These [des israelischen Botschafters in der Türkei Gabby] Levy, Erdoğan hasse Israel, einfach zutrifft“.

Besonders ungehalten reagierte Erdoğan auf einen US-Bericht, in dem davon die Rede ist, er unterhalte bis zu acht Bankkonten in der Schweiz. Eine Entschuldigung der US-Regierung reiche hier nicht aus; Erdoğan fordert überdies die Strafverfolgung der US-Diplomaten, die aus der Türkei berichtet haben. Dessenungeachtet zeigten sich amerikanische Diplomaten von Erdoğans politischen Fähigkeiten beeindruckt; er wird als „charismatisch“, „pragmatisch“ und als „geborener Politiker“ bezeichnet. Kritisiert wurde er dafür, daß er sich auf die „gefilterten Informationen von Beratern“ verlasse, die sich „neoosmanischen“ bzw. „islamistischen Phantasien“ hingäben.

Deutlich weniger freundlich fielen die Urteile der US-Diplomaten bei Nicolas Sarkozy, Silvio Berlusconi, Dimitri Medwedew oder Hugo Chávez aus. Frankreichs Staatspräsident Sarkozy durfte über sich lesen, er sei ein „Kaiser ohne Kleider“, der die Neigung habe, mit seinen Mitarbeitern „autoritär“ umzuspringen. In der Georgien-Krise soll er weit weniger erfolgreich verhandelt haben, als er vorgab. Italiens Premierminister Berlusconi, von US-Außenministerin Hillary Clinton als „bester Freund Amerikas“ bezeichnet, hat zur Kenntnis nehmen müssen, daß der ehemalige US-Botschafter in Italien Ronald Spogli zu einem ganz anderen Urteil gekommen ist: Er charakterisierte Berlusconi als „unfähig, eitel und ineffektiv“.

Auch das russische Führungsduo Medwedew/Putin dürfte über die Charakterisierung von Rußlands „Kleptokratie“, die an „der Spitze eines Mafiastaates“ stehe, alles andere als erfreut sein. Die russische Elite wird als „gaunerhaft“ beschrieben; Geldwäsche, Waffenhandel und Brutalität seien alltägliche Phänomene. Deutlich gereizt reagierte Putin überdies auf den der Comic-Welt entliehenen „Batman-Robin-Vergleich“, mit dem zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß es sich bei Medwedew um eine Art Wasserträger Putins handle.

Mit Blick auf den venezolanischen Staatspräsidenten Hugo Chávez interessierte die US-Diplomaten vor allem die enge Zusammenarbeit zwischen dem Karibikstaat und Kuba, die als „Achse der Störenfriede“ charakterisiert wurde. Der kubanische Geheimdienst habe Venezuela als US-feindlicher Geheimdienst eine Menge anzubieten; Chávez würde entsprechend mit Material versorgt.

Auch wenn weltweit viele düpierte Politiker versuchen, die Bedeutung der Veröffentlichungen herunterzuspielen, bleibt doch der Eindruck, daß die Beziehungen der USA zu manchen Staaten beschädigt sind. Welche Langzeitwirkungen dies zeitigt, wird sich insbesondere bei der Lösung internationaler Probleme, bei denen die USA auf Mitarbeit angewiesen sind, weisen. Hugo Chávez jedenfalls gartulierte Wikileaks zu dessen Mut und jubilierte: „Das Imperium steht nackt da!“

 

Wikileaks: Seit Gründung im Jahr 2007 veröffentlicht die Wikileaks-Enthüllungsplattform von Dritten zugespielte geheime Daten. Darunter Korruptionsfälle in Afrika, die Mitgliederliste der British National Party oder US-Dokumente über den Afghanistan- und Irak-Krieg. Den Enthüllungen brisanter Nachrichten von US-Diplomaten folgte am Montag eine Liste mit Objekten, die aus Sicht der US-Behörden mögliche Terrorziele darstellen.  www.wikileaks.ch

Foto: Werbebotschaft von Wikileaks: Wenn es nach dem Motto der Enthüllungsplattform geht, werden in Zukunft noch viele sorgsam gehütete Geheimnisse und viele verstaubte brisante Botschaften gelüftet

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