© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

Pankraz,
Emmanuel Todd und die Postdemokratie

Allmählich wird es staatsgefährdend. Alle reden über „Postdemokratie“, und zwar keineswegs nur bei irgendwelchen „Extremisten“, sondern genau in der berühmten „Mitte der Gesellschaft“, wo die gängigen Parolen ausgegeben werden. Pankraz hat versucht, nachzuzählen. Nicht weniger als dreißig prominente Gesprächskreise, Akademien und „Denkfabriken“ hatten im letzten Monat die „Postdemokratie“ zu ihrem Thema gemacht. Die einen fragten bänglich: „Leben wir schon in der Postdemokratie?“ Die anderen postulierten fröhlich: „Hurra, wir leben jetzt in der Postdemokratie.“

Geprägt haben den Begriff, vor Jahren schon, zwei ausländische Autoren, einmal der ausgezeichnete Pariser Politologe Emmanuel Todd in seinem Buch „Après la démocratie“, zum anderen der etwas weniger brillante Engländer Colin Crouch in seinem Buch „Post-Democracy“. Crouch ist inzwischen ins Deutsche übersetzt und liegt bei den Gesprächen überall aus. Aber fast alle Gesprächsteilnehmer mißverstehen ihn oder wollen ihn mißverstehen.

Crouchs Schrift war als eine Art Gegenangriff gegen den seinerzeit ins Kraut schießenden Neo-Liberalismus gedacht, in dessen Zeichen der demokratisch verfaßte Staat immer mehr außer Gefecht gesetzt werde. Die Politik ziehe sich – und zwar geradezu beflissen – aus Bereichen zurück, die doch zu den Kernaufgaben des Öffentlichen gehörten, aus Verkehr, Kultur, Sozialfürsorge usw., mit desaströsen Folgen für die „entmündigten Bürger“.

Heute nun, fährt Crouch fort, herrsche überall im Westen eine „generalisierte Inkompetenz-Vermutung“ gegen die politischen Parteien, obwohl diese doch völlig demokratisch gewählt seien. Die demokratischen Institutionen würden vielerorts tatsächlich nur noch formal existieren, es seien leblose Hüllen, während die „ökonomischen Eliten“ machten, was sie wollten. Dem müsse energisch begegnet werden.

Wie gesagt, die aktuellen Tagungsteilnehmer hierzulande wollen von der spezifischen Fragestellung Crouchs wenig wissen. Sie begrüßen die „Postdemokratie“, welche für sie nicht in der Herrschaft ökonomischer Eliten besteht, sondern just im Aufstand der von Crouch so treuherzig bemitleideten „entmündigten Bürger“. Die Politiker, so die vorherrschende Meinung, werden vom „großen Geld“ nicht außer Gefecht gesetzt, sondern stecken mit ihm unter einer Decke.

Nicht die Ökonomen, sondern die Politiker sind nach dieser Auffassung das eigentliche Übel. Das „Öffentliche“,  also das, was alle interessiert und auch zu interessieren hat, ist von ihnen regelrecht okkupiert und dem Volk entzogen worden. Das Volk hat nur noch die Möglichkeit, alle Jubeljahre mal ein Kreuzchen unter irgend-einen Parteinamen zu pinseln. Alles übrige wird durch bürokratische „Verfahren“ geregelt, d.h. voll und ganz den an den Schalthebeln (und an den Futterkrippen) sitzenden Politikern überlassen.

Und mißlicher noch: Mit Hilfe der Medien, vor allem des Fernsehens, haben die Politiker dafür gesorgt, daß es keinen wirklich öffentlichen Diskurs mehr gibt, der das je ändern könnte. Es gibt stattdessen einen politisch-medialen Komplex, welcher dafür sorgt, daß neue Parteien entweder harsch ausgegrenzt und buchstäblich zu Tode „beobachtet“ oder aber, falls bereits fest etabliert, erfolgreich umfunktioniert und in den herrschenden „closed shop“ eingeordnet werden. Wenn so Demokratie aussieht (so die allgemeine, zumindest rasant sich ausbreitende Ansicht), dann lieber „Postdemokratie“!

Ereignisse wie das Erscheinen des augenöffnenden Buches von Thilo Sarrazin oder die von faktisch sämtlichen Bevölkerungsschichten getragenen Demonstrationen gegen „Stuttgart 21“ haben etwas ins Rollen gebracht. Die Einsicht wächst, daß Demokratie, verstanden als bloßes „Verfahren“ plus gelegentliches Kreuzchenmachen,  in Zeiten von Internet und Wikileaks nicht mehr möglich ist. Grundsätzlich neue Formen der Begegnung von Volk und Politik werden nötig, und es kommt darauf an, sie genau zu erkennen und in humane, vernunftgeleitete und allseits akzeptierbare Formen zu gießen.

Die Lektüre des Buches von Emmanuel Todd kann dazu sehr viel mehr beitragen als Crouch. Todd macht überzeugend deutlich, daß eine bloße „Verschweizerung“, also eine Auflockerung der sogenannten repräsentativen Demokratie durch vermehrte Volksentscheide, nicht ausreichen würde, um der neuen Lage effektiv zu begegnen. Fällig sei ein entschiedener Trennstrich zwischen Parteienherrschaft und Volksherrschaft.

Starre, über ganze Epochen sich hinziehende Präsenz von immer gleichen Parteien widerstrebt dem Geist einer vom Willen des Demos angeleiteten Politik. Parteien sind im Grunde Ad-hoc-Wahlvereine für momentane Interessenlagen; alles, was darüber hinausgeht, steht in der Gefahr, zur bloßen Oligarchie, zur Herrschaft der Immergleichen und nur noch an sich selbst Interessierten, zu entarten. Parteien sui generis sind anfällig für Korruption und Unterwanderung durch das „große Geld“. Und sie sind Brutstätten der Inkompetenz.

Ihren Nachwuchs, ihre „Kader“, beziehen sie nicht aus Fachkräften, die sich im realen Leben oder in der Wissenschaft bewährt und ausgezeichnet haben, sondern es sind in der Regel karrierebewußte Existenzen aus der zweiten Reihe, die es verstehen, mit den Tricks und den Insignien der Macht umzugehen. Natürlich muß es auch solche Gestalten geben, gerade in der Politik, doch die Herrschaft von Parteien bringt es mit sich, daß sie allzu mächtig werden, am Ende sogar stilbildend.

Das aber, sagt Todd, ist die Gefahr der Demokratie, nämlich die Diktatur der Zweitklassigen und Hinterhältig-Schlauen. Die Gefahr eines Regimes  „après la démocratie“ hingegen wäre eine Diktatur der völlig Unbeleckten, der breitmäuligen Dreinschläger und Abräumer. Eine akzeptable „Postdemokratie“ müßte beide Gefahren ins Auge fassen und stets im Auge behalten. Nur dann wäre sie die bessere Alternative.

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