© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

Was für ein tolles Volk!
Geistes- und Kulturgeschichte: Ein Engländer würdigt den deutschen Genius
Günter Zehm

Was ist ein Genius? Ursprünglich war es der Schutzengel, der nach Auffassung vieler Religionen jedem Lebewesen beigegeben ist, um es auf dem rechten Weg zu halten und vor Gefahren zu bewahren. Und das galt nicht nur für einzelne Individuen, sondern auch für Institutionen, für Handwerkergilden oder Heeresformationen zum Beispiel, auch für ganze Völker. Heute versteht man im Deutschen unter Genius so etwas wie geniale Inspiration oder überhaupt Geniehaltigkeit, Einfallsreichtum, Begnadetsein. Im Englischen dagegen heißt „genius“ nichts weiter als Generalcharakteristikum, sein Sinn ist also viel nüchterner.

Dergleichen sollte man sich klarmachen, bevor man zu dem monumentalen Wälzer „The German Genius“ des bekannten britischen Publizisten Peter Watson greift, welcher jetzt auch auf deutsch erschienen ist. Sein Untertitel lautet „Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI.“, und genau das wird auch geboten, nicht mehr und nicht weniger: eine nüchtern und populär geschriebene deutsche Kulturgeschichte der letzten dreihundert Jahre. Hier wird nichts emphatisch überhöht, aber auch nichts willkürlich herabgemindert oder gar weggedrückt. Man wird fair und kulant bedient.

Das Buch ist auf jeden Fall mehr als ein bloßes Wissenskompendium, es ist sogar eine ausgewachsene Sensation, bedenkt man die Statur seines Autors und die Antriebe, die ihn dazu brachten, „The German Genius“ zu schreiben. Peter Watson (Jahrgang 1943), ein in vielen Sätteln geübter Kulturjournalist, fiel bisher vor allem durch seine Vorliebe für die bildende Kunst und den internationalen Kunsthandel beziehungsweise Kunstraub auf. Er schrieb über Paolo Veronese und die „Medici-Verschwörung“, über das Auktionshaus Sotheby’s, vergrabene Kunstschätze und das Leben Caravaggios.

Außerdem verfertigte er Kriminalromane (die ebenfalls meist im Kunsthandel spielen) und verschaffte sich schließlich ein weiteres Standbein, indem er sich der Geschichte der Wissenschaft, der Erfindungen und der ingeniösen technischen Problemlösungen, zuwandte. Der „German Genius“ fällt deutlich aus seiner bisherigen Bibliographie heraus. Es ist sein erstes genuin historisches Buch, und es widmet sich ausschließlich einer einzigen Nation, Deutschland, und seiner Geschichte in der Neuzeit, die als eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen beschrieben wird. Schon das sorgte auf der Insel für Überraschung, auch für mancherlei Irritation und Polemik.

Großbritanniens Premierministerin Margaret Thatcher hatte in ihren Wahlkampfreden ja einst stets eine Liste von „bahnbrechenden Erfindungen“ aufgezählt, die angeblich alle von Engländern gemacht worden seien, zum Beispiel der Kühlschrank und das Fernsehen. Und jetzt kommt plötzlich einer, eben Watson, und behauptet, nicht die Engländer, sondern die Deutschen hätten Kühlschrank und Fernsehen erfunden, zumindest einsatzreif gemacht, wie auch viele andere schöne Sachen, etwa das Auto oder die Schutzimpfung.

Faktisch die ganze organische und anorganische Chemie, zeigt Watson in seinem „Genius“, ist von deutschen Gelehrten und Technikern entwickelt worden, wie auch die moderne theoretische Physik, die Düngemittelindustrie, die Kunststoffindustrie. Watson nennt die Namen und beschreibt das Leben der deutschen Bahnbrecher, Friedrich Wöhler, Ernst von
Baer, Justus von Liebig, Theodor Schwann, Rudolf Virchow, Robert Koch, Friedrich August von Kekulé, Paul Ehrlich. Besonderer Raum wird Wilhelm von Humboldt gewidmet, den Watson als Schlüsselfigur und Scharnier zwischen Natur- und Geisteswissenschaft groß herausstellt.

Denn nicht vorrangig die deutsche Wissenschaftsgeschichte interessiert Watson, sondern die Geistesgeschichte im weiteren Sinne: Pietismus, Philosophie, Psychologie, Soziologie, Institutionenlehre. Die Universitätsreformen Wilhelm von Humboldts, die sehr gelobt werden, erscheinen als logisches Resultat einer spezifisch deutschen Geistesentwicklung, welche eine äußerst fruchtbare Synthese aus Innerlichkeit und Weltoffenheit, Logizität und Sinnlichkeit zustande gebracht habe. Bereits die alten, vorhumboldtschen deutschen Universitäten wie Halle und Göttingen hätten davon profitiert und entfalteten früh internationale Attraktivität.

Völlig zu Recht würdigt Watson ausführlich das Schaffen Johann Gottfried Herders. Dieser war Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die große Hoffnung deutscher Gelehrsamkeit, welche  gerade dabei war, Pietismus und Aufklärung zu einer brisanten, bald welthistorisch wirksam werdenden Mischung zu verbinden. Weder mit dem streng-formelhaften französischen Rationalismus noch mit dem bieder-praktischen englischen Empirismus mochte man sich abfinden. Die Vernunft erschöpfte sich weder in mathematischen Axiomen noch in simplen Sinnesdaten. „Es ist nichts im Verstande, was nicht vorher in den Sinnen gewesen ist“, hatte der britische Empirist John Locke deklariert. Aber schon Gottfried Wilhelm Leibniz hatte dem hinzugefügt: „... außer der Verstand selbst“.

Als sich der junge Herder von Riga aus in die große Welt aufmachte, waren Leibnizens diesbezügliche „nouveaux essais“ gerade postum erschienen. Ihr Echo war gewaltig. Es löste bei Kant die ungeheuer folgenreichen „kritischen“ Schriften aus, bei Herder jedoch die Reflexion auf jene Sphäre, die nun ebenfalls eine machtvolle Konstante im deutschen Geistesleben werden sollte: das Gefühl.

Das Gefühl war eine primäre, allen Menschen und Völkern gleichermaßen zugängliche Geistesbefindlichkeit, in der Traum und Kalkül, Sprache und Tat, Poesie und Philosophie noch ganz eng und ungeschieden beeinander wohnten, ineinander übergingen und sich gegenseitig befruchteten und erklärten. Dabei gibt es eine große Polarität: Gefühl und Zeit. Die Zeit treibt das Gefühl zur Entfaltung, dadurch entsteht Geschichte, mit einem gleichsam göttlichen Zeitpfeil. Gott sorgt letzten Endes dafür, daß sich alle im Gefühl angelegten Keime gleichmäßig, „human“, entwickeln, sich maßvoll „ausdifferenzieren“, wie wir heute sagen würden. Jedes Überwuchern des einen Keims durch den anderen ist von Übel und wird letztlich von der spontanen Entwicklung korrigiert. Wir Menschen können und sollen dieser Korrektur beistehen – diese Idee, schreibt Watson, markierte den Beginn des klassischen deutschen Humanismus.

Im schicksalsschwangeren August 1770 trafen sich in Straßburg der noch junge Herder, nunmehr Prinzenbegleiter an wechselnden Höfen, und der noch ganz junge Student Johann Wolfgang Goethe. Der Funke sprang sofort über. Beide waren sich einig: Das Zeitalter war überrationalisiert, besonders die Poesie, sie ächzte in einem Korsett unsinniger, pedantischer Regeln. Es war hohe, höchste Zeit zur Korrektur. Und dazu waren „Genies“ nötig, wie sie selber welche waren: der Liebe volle Kerle, die auf die Stimmen des Volkes zu hören verstanden und sie in kraftvolle, herrlich alte, herrlich neue Sprache umzusetzen wußten, in Sturm und in Drang.

Der Rest war deutsche und europäische Geistesgeschichte, Weimarer Klassik, Jenaer Romantik, Hegelsche Phänomenologie mit dem „Volksgeist“ als historischer Zentralkategorie. Dieser Volksgeist ist keine materialistisch-biologisch festlegbare oder gar manipulierbare Größe, er ist reiner Geist, von den Kräften der Erde und der Tradition gespeist und in Bewegung gehalten. Wenn man ihn je vergißt, schert man aus der Entwicklung der Menschheit aus und wird wieder zum Tier, zum bloßen Konsumtier.

All dies und noch viel mehr wird von Peter Watson sorgsam registriert und, wie erwähnt, in klare, schlichte Sprache gegossen. Er analysiert wenig, er stellt nur dar und verschweigt dabei nichts. Auch die dunklen Seiten des deutschen „genius“ werden durchaus angeleuchtet, Tendenzen namhaft gemacht, die der Katastrophe zwischen 1933 und 1945 den Weg bereiteten und oftmals noch über sie hinaus schlimme Wirkung zeitigten und noch zeitigen. Watson ist kein deutscher „Revisionist“, „Verharmloser“ oder „Leugner“, sondern ein in der Wolle gefärbter britischer Skeptiker und Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle.

Was er jedenfalls ablehnt, sind die fragwürdigen und von interessierten, das geistige Leben hierzulande bestimmenden Kräften bewußt instrumentalisierten Thesen vom „unheilvollen deutschen Sonderweg“ und von der „Untilgbarkeit deutscher Schuld“, die den hiesigen „genius“ für alle Zeiten unter Kuratel und Ausbeutbarkeit stellen möchten. Die deutsche Kultur- und Geistesgeschichte, so stellt Peter Watson klar, war ein Glücksfall für Europa, von dem alle Europäer und auch die übrige Welt unendlich profitierten.

Peter Watson: Der deutsche Genius. Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI. C. Bertelsmann Verlag, München 2010, gebunden, 1.023 Seiten, 49,90 Euro

Foto: Deutsche Geistesriesen: Virchow, Bach, Koch, Hegel, Kant (obere Reihe v.l.n.r.), Herder, Goethe, Leibniz, W. von Humboldt (untere Reihe v. l.n.r: )

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