© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Das Jahr geht zu Ende und mit ihm der Gedenkmarathon in Frankreich, der an das fatale „1940“ erinnern sollte. Neue Perspektiven gab es kaum, die großen Leidenschaften, mit denen man in der Vergangenheit die Vergangenheit diskutiert hat, haben nachgelassen. Deshalb wird auch kaum jemand an den eher symbolischen Vorgang erinnern, mit dem vor siebzig Jahren, am 15. Dezember 1940, der Sarg des „Aiglon“ – des „kleinen Adlers“, Kosename für Napoleon II., eher bekannt als „Herzog von Reichstadt“, neben dem seines Vaters im Invalidendom beigesetzt wurde. Das geschah genau einhundert Jahre nach der Überführung der Gebeine Napoleons I. von St. Helena. Die hatte unter großer Beteiligung der Franzosen stattgefunden, während man jetzt den Vorgang geheimhielt, um Demonstrationen zu verhindern. Der Sarg, den Hitler aus der Kapuzinergruft in Wien holen ließ, kam am Gare de l’Est an, wurde von einem deutschen Ehrengeleit auf einer Lafette, fahnenbedeckt, zu seinem Bestimmungsort gebracht und erst dort von französischen Polizisten in Empfang genommen und in Anwesenheit des neuen Staatschefs Pétain wieder bestattet.

Angesichts der natürlichen Überlegenheit der Frau ist das Patriarchat eine legitime Form männlicher Selbstverteidigung.

Wahrscheinlich ging es Hitler tatsächlich um eine „ehrliche Geste“, als er die Überführung des Leichnams (nicht des separat beigesetzten Herzens, nicht der separat beigesetzten Eingeweide) befahl, ein Versuch, die Franzosen zum Bündnis gegen den gemeinsamen Erbfeind England zu bewegen. Sonst mied Hitler die Nähe zu Napoleon. Wahrscheinlich weil ihm bewußt war, daß der Vergleich nahelag. In der Tradition des deutschen Nationalismus überwogen trotz des Geniekults negative Wertungen, das Ende des Imperiums mit dem Scheitern der Kontinentalsperre und dem Angriff auf Rußland mußte wie ein Menetekel wirken. Andererseits gibt es das Gerücht, daß das Napoleon-Buch seines Vertrauten Philipp Bouhler – Chef der „Kanzlei des Führers der NSDAP“ – zu Hitlers Lieblingsbüchern gehörte.

Bildungsbericht in loser Folge IV: „Deutscher Schulpreis“ klingt offiziell, tatsächlich steht dahinter aber eine private, die Robert-Bosch-Stiftung. Es wurde nun darauf hingewiesen, daß der „Deutsche Schulpreis“ regelmäßig an Bildungsinstitutionen geht, die mit dem üblichen Schulbetrieb nichts zu tun haben, sondern anstelle der öden Stundentafel ein Vierteljahr lang Theater spielen lassen, erst einmal auf Noten verzichten, Lernbehinderte und jugendliche Genies durch ein Wunder in gleichem Maße fördern und sowieso das selbstbestimmte Agieren der Schüler in den Mittelpunkt stellen. Man hat den Eindruck, als gehe es kaum darum, daß gelehrt und gelernt wird, sondern darum, daß alles irgendwie bunt und nett und entspannt und kreativ ist, was selbstverständlich nichts mit dem zu tun hat, was eine Schule als Institution für alle Schulpflichtigen zu leisten hat. Möglich wird das durch ein mißtrauisch stimmendes Bündnis von unternehmerischer Philanthropie, egalitärem Programm und Ausnahmepädagogik.

Zwei Meldungen an einem Tag: Erstens, niemals zuvor wurden in Deutschland so wenig Kinder geboren. Zweitens, der Bund stellt zehn Millionen Euro für die neugegründete Magnus-Hirschfeld-Stiftung zur Verfügung, die im Kontext von „Bilden, Forschen und Erinnern“ das Ziel verfolgt, „die weitere Emanzipation von Schwulen, Lesben und Transsexuellen in der heutigen Gesellschaft“ zu unterstützen.

Der Vergleich von Hitler und Napoleon gehörte auch nach 1945 zu den Tabuthemen. Nur die Motive waren andere als in der NS-Zeit. Joachim Fernau hat darauf reagiert, indem er das entsprechende Kapitel seines erstmals 1952 erschienenen Erfolgsbuches „Deutschland, Deutschland über alles“ folgendermaßen einleitete: „Er wurde am 20. April 1889 als Sohn armer österreichischer Eltern in Braunau am Inn geboren und hieß mit vollständigem Namen Napoleone Buonaparte. Der junge Napoleone war besessen von Ehrgeiz. Mit Menschen zu verfahren, irgendwie, war seine Leidenschaft. Er war Militär durch und durch und ungeheuer fleißig. Napoleone setzte in einer ringsum unfähigen und zerrissenen Welt seinen Aufstieg fort. Er wünschte Herrscher zu werden. Eine flugs veranstaltete ‘Volksbefragung’ bestätigte dies ‘spontan’. Er hatte vorzügliche Verwaltungsideen. Daneben ließ er ehemalige Jakobinerfreunde deportieren und verschwinden, um sich von ihnen zu befreien. Um die Bourbonen zu erschrecken, ließ er den blutjungen Herzog von Enghien grundlos erschießen. (…) Als sich Europa von ihm befreit hatte, schickte man ihn zwar nach Elba, aber mit dem Titel Fürst und ... oh, Verzeihung! Jetzt merke ich, ich bin fälschlich in zwei ganz andere Kapitel geraten!“

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint in zwei Wochen in der JF-Ausgabe 52/10.

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