© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

Lockerungsübungen
Realistische Einschätzungen
Karl Heinzen

Wikileaks und sein Gründer Julian Assange haben Osama bin Laden und das Netzwerk al-Qaida als Feinbild Nummer eins der Amerikaner abgelöst. Nun werden alle Register gezogen, um der Enthüllungsseite den Garaus zu machen. Doch auch die Sperrung der bisherigen Domain, Erschwernisse in der Akquise finanzieller Unterstützung und die fadenscheinig anmutende Strafverfolgung gegen Assange dürften kaum zum Ziel führen. Notfalls werden Nachahmer in die Fußstapfen von Wikileaks treten.

Dabei ist die Aufregung, die die Einstellung von Botschaftsdepeschen der USA ins Netz erzeugt hat, kaum nachzuvollziehen. Weder diese Dokumente noch die zuvor publizierten Datensätze zur amerikanischen Kriegführung im Irak und in Afghanistan haben etwas an den Tag gebracht, was bislang nicht wenigstens angenommen werden durfte. Ist es wirklich überraschend, daß die USA Angela Merkel als risikoscheu und nicht sonderlich kreativ, Berlusconi als einen Freund ausschweifender Parties und Medwedew als blaß und zögerlich einschätzen? Wäre es nicht vielmehr aufsehen- und besorgniserregend, würden sie Guido Westerwelle für einen erfahrenen Außenpolitiker halten, auf die Staatskunst Hamid Karzais bauen und die Regierung Kenias ob ihres Ringens um Demokratie und Korruptionsbekämpfung loben?

Die „Enthüllungen“ von Wikileaks mögen die Eitelkeit der Amerikaner treffen, da sie es nicht verstehen, die Vertraulichkeit von Regierungsdokumenten zu sichern. Dem Ansehen der Weltmacht haben sie jedoch nicht geschadet. Sie führen vielmehr den Nachweis, daß die USA allen Spötteleien zum Trotz sehr wohl über eine realistische Einschätzung des politischen Geschehens rund um den Globus verfügen. Dies ist auch für ihre Verbündeten sehr beruhigend.

Darüber hinaus zeigen die Veröffentlichungen, daß der mitunter belächelte Begriff der „demokratischen Öffentlichkeit“ keineswegs deplaziert ist. Was sie präsentieren, überschreitet den möglichen Wissensstand, den sich Bürger schon durch Medienkonsum erschließen konnten, kaum. Offenkundig wird nur, daß sich hinter den Kulissen der Weltpolitik gar nicht so viel abspielt. Julian Assange war nicht der erste, der die Hoffnung auf ein Ende der Geheimdiplomatie mit Leben erfüllt hat. Wikileaks führt aber vor Augen, wie nahe wir diesem Ziel gekommen sind.

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