© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

Bildungspolitik
Entschulung Deutschlands
von Christian Böhm

Im März 2011 ist es fünf Jahre her, daß sich die Lehrer der Berliner Rütli-Schule mit einem spektakulären Hilferuf an die Öffentlichkeit wandten. Das Kollegium hatte die Kontrolle über die Schule und die Schüler verloren. Lernverweigerung, Vandalismus und Gewalt bei den Schülern; Resignation, Verzweiflung und Angst bei den Lehrern; Desinteresse, Überforderung und Hilflosigkeit bei den Eltern; Ignoranz, Beschwichtigung und Schönrederei bei den Politikern hatten zu unhaltbaren Zuständen an der Schule geführt. In einem Brandbrief an die Berliner Politik erbat das Kollegium dringende Hilfe. Das Medienecho war enorm. Seitdem zeigte sich: Das Syndrom „Rütli-Schule“ gibt es auch anderswo in Deutschland. Die allgemeine Zustandsbeschreibung lautet: Das System ist „krank“. Doch welche Krankheit gilt es zu behandeln? Und wie schwer ist sie?

Für das deutsche Schulsystem lassen sich symptomatische Schwerpunkte finden, aus denen sich das Krankheitsbild zusammensetzt. Dabei sind sowohl strukturelle, finanzielle, personelle als auch pädagogische und politische Defizite zu nennen. Sie sind ineinander verschränkt. Ursache und Wirkung sind oftmals nicht zu identifizieren.

Das Schulsystem leidet in Deutschland seit den 1960er Jahren unter einer zunehmenden Strukturkrise. Bis 1964 existierte in Deutschland ein einfach strukturiertes Drei-Säulen-Modell. In dessen Zentrum stand unangefochten die neunjährige Volksschule. Daneben gab es die Real- oder Mittelschule sowie das Gymnasium. Die Volksschule besuchten etwa 70 Prozent eines Jahrgangs und schlossen sie ausbildungsfähig ab. Die beiden anderen Schularten nahmen nach erfolgreich bestandenen Aufnahmeprüfungen je zirka 15 Prozent eines Jahrgangs auf. Mit dem Hamburger Abkommen von 1964 wurde die überschaubare und äußerst effiziente Schulstruktur aus politisch-ideologischen Gründen destabilisiert. Es kam zu einem strukturellen Paradigmenwechsel: Die Säulen- wurde durch die Stufenstruktur ersetzt.

Die Volksschule wurde in Grund- und Hauptschule zerschlagen. Beide Schularten bildeten fortan organisatorisch, didaktisch und pädagogisch eigenständige Schulformen. Damit befanden sich drei Schultypen der Sekundarstufe I in Konkurrenz zueinander – Hauptschule, Realschule, Unter- und Mittelstufe des Gymnasiums. Mit der damals bereits verdeckt geplanten Einführung der Gesamtschule kam wenige Jahre später der eigentlich favorisierte Schultyp hinzu. Auf der Ebene der Sekundarstufe I agierten von nun an vier Konkurrenten. Auf der Ebene der Sekundarstufe II boten zwei konkurrierende Schultypen gleichzeitig ein Abitur an. Die versprochenen Verbesserungen, die der strukturelle Umbruch der 1960er mit sich bringen sollte, haben sich bis dato nicht eingestellt. Im Gegenteil: Aufgrund der destabilisierenden Konkurrenzsituation auf den Sekundarstufen I und II hat sich eine fundamentale Strukturkrise unseres Schulsystems ausgebildet. Die Hauptschule verkommt zur Restschule und wird abgewickelt.

Schulen der Sekundarstufe I werden zu immer neuen Schultypen wie Regional- oder Oberschule aus fadenscheinigen Gründen fusioniert. Die erfolgreiche Realschule verschwindet zusehends. Das traditionelle Gymnasium – mit seinem Leistungsabitur – steht seit langem in Konkurrenz zur Einheitsschule, die mit einem Leicht-Abitur wirbt. Mit der Einführung von G8 verliert es neuerdings ein Drittel seiner Oberstufe. Dort, wo sich egalitäre, sechsjährige Primarschulen durchsetzen, fehlen ihm dann zusätzlich noch zwei Drittel der Unterstufe. Die Einheitsschule, getarnt als Gemeinschaftsschule, löst mittlerweile die gescheiterte Gesamtschule ab. Da hier weiterhin ein neunjähriges Abitur „light“ gemacht werden kann, verstärkt sich der Druck auf das Gymnasium. Das deutsche Schulsystem hat sein strukturelles und qualitatives Profil verloren. Es hat damit einen wichtigen Teil seines Selbstkonzepts aufgegeben.

Neben der organisatorischen Strukturkrise leidet das Schulsystem an einer strukturellen Finanzkrise. Das Schulsystem insgesamt ist seit Jahren chronisch unterfinanziert. Die Hauptstadtpresse berichtete schon vor zwei Jahren alarmiert: „Die Schulen und Turnhallen der Hauptstadt sind in katastrophalem Zustand. Weil Reparaturen manchmal Jahrzehnte verzögert wurden, ist die Substanz vielerorts verkommen. Die Sanierung würde eine Milliarde kosten“ (Berliner Morgenpost, 21. November 2008). Beispiele dieser Art gibt es viele. Das Schulsystem läßt vielerorts seine materielle Grundlage verkommen. Vandalismus beschleunigt den Verfall. Das Schulsystem läßt jede Achtsamkeit im Umgang mit seinen materiellen Grundlagen, und damit mit sich selbst, vermissen.

So wie es mit den materiellen Ressourcen umgeht, so verhält sich das Schulsystem gegenüber seinen Lehrern. Auch hier zeigen sich krisenhafte Symptome. Die Freiburger Universität berichtet: 35 Prozent der Pädagogen seien ausgebrannt, 20 Prozent behandlungsbedürftig. Das Personal des Schulsystems befindet sich demnach zu einem erheblichen Teil in einem chronischen Erschöpfungszustand. Die betroffenen Lehrer können ihre eigenen Ansprüche sowie die Erwartungen des Umfelds nur noch unzureichend erfüllen. Die Arbeitsbedingungen entsprechen nicht ihrem Aufgabenprofil. „Management by talking around“ ist eine beliebte Masche von hochrangigen Bildungsbürokraten, um populistische Führungsbotschaften ins System hinein zu kommunizieren.

Hinzu kommen Schuldzuweisungen durch die öffentlich agierenden Polit-Vorgesetzten. Als Krönung äußert sich 1996 ein Ministerpräsident – der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder – verächtlich über Lehrer, indem er sie als „faule Säcke“ bezeichnet. Die veröffentlichte Meinung der linksdralligen Medien trägt ihr Teil zum Lehrer-Bashing bei. Das „Lehrerhasserbuch“ wird zum ARD-Talkshow-Thema. Der Spiegel nennt es „furios“. Wie der Lehrer sich fühlt, spielt keine Rolle. Selten wird er von seinem Dienstherrn in Schutz genommen. Von Fürsorge keine Spur.

Ganz im Gegenteil: Neben dem Bildungs- und Erziehungsauftrag im traditionellen Sinne – des Lehrers Kerngeschäft – werden ihm immer neue, zusätzliche Aufgaben zugewiesen. Zuerst waren es Erziehung und Sozialisation, neuerdings sind es ergänzend noch Integration und Inklusion. Auf eine Prüfung, ob die notwendigen Voraussetzungen zur Aufgabenerfüllung überhaupt vorliegen, verzichtet das Schulsystem. Es geht rücksichtslos mit seinen Lehrern um. Es „zermürbt“ sie. Es macht sie krank. Das deutsche Schulsystem läßt damit jegliche Achtsamkeit im Umgang mit seinen personellen Grundlagen, und damit mit sich selbst, vermissen.

Mit dem strukturellen Umbau des Schulsystems in den 1960ern ging ein pädagogischer Paradigmenwechsel einher: Die traditionelle, wissens- und leistungsorientierte Pädagogik wird seitdem schleichend ersetzt. An ihre Stelle tritt eine neue und praktisch unerprobte Pädagogik des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Klafki. Sie vermittelt ein neues Selbstverständnis von Schule, Allgemeinbildung und Lernen. Schule ist demnach immer „politische Schule“ und Bildung immer „politische Bildung“. Die Allgemeinbildung wird umdefiniert als linksideologische Fähigkeitstriade der Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität. Die Sozialbildung hat Vorrang vor der Wissensbildung. Fortan war ein fundamentaler Dissens in den Kollegien, aber auch zwischen Schule und Elternschaft sowie zwischen Befürwortern und Gegnern des egalitären Schulsystems gelegt. Dieser Dissens besteht bis heute. Er eskaliert. Die Vokabel vom „Schulkrieg“ macht die Runde. Aus dem Dissens hat sich eine pädagogische Krise entwickelt. Der Primarschulstreit in Hamburg steht exemplarisch für die Auseinandersetzung zwischen traditioneller Leistungs- und hedonistischer Klafki-Pädagogik.

Die egalitäre Heilslehre „Längeres gemeinsames Lernen“ in einer „Schule für alle“, welche alle Leistungsstarken unweigerlich zu Verlierern macht, steht gegen die Erfahrungswerte einer wissens- und leistungsorientierten Schultradition. Das Schulsystem läßt eine ideologische Auseinandersetzung über die zu praktizierende Pädagogik zu. Es verläßt mit der Politisierung der Schule ihre konstitutive Grundlage der politischen und weltanschaulichen Neutralität. Das Schulsystem hat selbst nicht die Kraft, diesen revolutionären Affront der Egalitaristen abzuwehren. Es zeigt an diesem Punkt hilflos depressive Symptome. Das Schulsystem hat die Macht über sich selbst verloren.

Die Entwicklung des deutschen Schulsystems ist auch das Ergebnis von Schulpolitik: Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich in Deutschland erneut das traditionelle, gegliederte Schulsystem. Eine entsprechende Schulpolitik wurde in den 1950ern sehr erfolgreich durch die C-Parteien betrieben. Diese wußten sich der koalierenden Kräfte, die für ein Einheitsschulsystem im Sinne der „Reeducation“ agitierten, zu erwehren. Die Widerstandskraft erlahmte jedoch über die Zeit. So wurden die egalitären Bildungsreformen der 1970er fast widerstandslos durch die CDU/CSU- Bildungspolitiker zugelassen. Als nach Pisa 2000 Schule und Bildung wieder Thema waren, gewannen die Egalitaristen erneut die Oberhand.

Die C-Parteien schwammen nun wieder einfallslos und opportunistisch im linken Mainstream mit. Annette Schavan (CDU) berief als Kultusministerin Baden-Württembergs 2004 eine Kommission zur „Modernisierung“ der Lehrpläne. Sie ernannte einen Protagonisten der Egalitaristen, Hartmut von Hentig, zum Leiter der „Bildungsplanreform“. Damit machte Schavan den Bock zum Gärtner. Die christdemokratischen Ministerpräsidenten Ole von Beust, Peter Müller und Peter Harry Carstensen demonstrierten eindrücklich, welchen Stellenwert Schulpolitik innerhalb der Union mittlerweile einnimmt. Sie überließen das Schulressort ihren (linken) Koalitionspartnern. Mit der sozialdemokratisierten CDU der Gegenwart ist Schulpolitik zur schnöden politischen Verhandlungsmasse verkommen.

Das opportunistische Verhalten der CDU hat die deutsche Schulpolitik „krank“ gemacht: Die CDU hat ihre kulturelle Hegemonie in Sachen Schule und Bildung eingebüßt. Sie hat zugelassen, daß ein egalitäres, ideologisch-pädagogisches Konzept Eingang in unser Schulsystem gefunden hat und es von innen heraus paralysiert. Es „sickert“ (Hellmut Becker) planmäßig durch und wirkt wie ein lähmender Spaltpilz. Heute zeichnet sich die deutsche Schulpolitik aus durch Unberechenbarkeit und Wankelmütigkeit, durch zunehmenden Zynismus und mangelnde Verläßlichkeit. Hinzu kommt eine Kommunikation, die fast schon autistische Züge trägt.

Die tragenden Säulen des deutschen Schulsystems zeigen chronisch krankhafte Symptome. Die geringe Ausprägung des eigenen strukturellen Selbstkonzepts wird sichtbar an der Strukturkrise. Die Finanz- und Personalkrise zeugen von mangelnder Achtsamkeit im Umgang mit den eigenen Ressourcen. Die pädagogische Krise offenbart eine kognitiv-intellektuelle Sinnkrise. Politischer Fatalismus und ängstlicher Aktionismus, gepaart mit Defiziten in der Kommunikation, kennzeichnen die politische Krise. Die genannten Symptome sind typisch: Das deutsche Schulsystem leidet unter einem systemischen Burnout. Es droht die Entschulung Deutschlands.

 

Christian Böhm, Jahrgang 1948, Diplom-Physiker, war zunächst in der freien Wirtschaft beschäftigt. Seit 1992 ist er als Unternehmer tätig. Mit seiner Frau Birgit verfaßte er das Buch „Evaluation der Pädagogik Wolfgang Klafkis“, Hamburg 2008.

Foto: Die Schultreppe als Aufstiegschance: Was heutige „Kuschelpädagogen“ nicht wahr haben wollen – ohne Anstrengung, Fleiß und Disziplin kann der Bildungsweg auch nach unten führen

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