© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

Vergessene Episoden von Humanität im Weltkrieg
Gefangenenaustausch zwischen England und Deutschland
Hans-Joachim von Leesen

Am 24. Oktober 1943 strömten Tausende von Stettinern zum Hafen. Angekündigt war die Ankunft der beiden deutschen Lazarettschiffe „Meteor“ und „Rügen“, die vom schwedischen Göteborg kommend mehr als 4.700 schwerverwundete deutsche Soldaten, begleitet von in Gefangenschaft geratenen Sanitätern sowie internierten Seeleuten der Handelsmarine, aus britischer Gefangenschaft nach Hause bringen sollten. Sie wurden ausgetauscht gegen 4.344 britische Schwerverwundete und Handelsmatrosen aus deutscher Kriegsgefangenschaft oder Internierung. Auch in Kriegsgefangenschaft geratene Feldgeistliche waren in beiden Fällen unter ihnen.

Als endlich die Schiffe an der Hakenterrasse anlegten, jubelten ihnen nicht nur die Stettiner zu. Eine Ehrenkompanie des Heeres war angetreten, um die schwerverwundeten Kameraden zu begrüßen. Und als dann die Verwundeten an Land gebracht wurden, unter ihnen viele auf Tragen oder in Rollstühlen, stürmten Hunderte von BDM-Mädchen auf sie zu und überschütteten sie mit Blumen. Hohe Vertreter des Staates boten ihnen das Willkommen der Heimat. Jeder Ausgetauschte, vor allem Angehörige der Luftwaffe und der Kriegsmarine, bekam sodann einen „Freßkorb“. Nicht reisefähige Soldaten wurden sogleich in Spezialkrankenhäuser und Lazarette überwiesen, wo sie weiter behandelt wurden, die übrigen erhielten vier Wochen Heimaturlaub.

Es war dies der erste unter der Regie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) durchgeführte Austausch von Schwerverwundeten. Es folgten am 25. Oktober 1943 weitere über 1.000 deutsche und britische Verwundete, die über Barcelona ausgetauscht wurden. Im selben Jahr konnten noch einmal 90 deutsche Zivilinternierte und 700 deutsche verwundete Kriegsgefangene gegen 900 Briten und US-Amerikaner ausgetauscht werden. Bis zum April 1945 gab es noch mehrere Austauschaktionen, darunter auch solche über die Schweiz, deren genaue Zahlen nicht bekannt sind.

Die humanitären Austauschaktionen waren möglich, weil sowohl Großbritannien als auch das Deutsche Reich die Genfer Konvention aus dem Jahre 1929 über die Behandlung von Kriegsgefangenen unterzeichnet hatten. Darin hatten sich die europäischen Staaten – die Sowjetunion gehörte nicht dazu – mehrheitlich zu gewissen Regeln verpflichtet, wie mit den gegenseitigen Kriegsgefangenen umzugehen sei. Grundlage dafür war das Prinzip der Gegenseitigkeit. Darüber hinaus hatten das Deutsche Reich und Großbritannien bald nach Kriegsausbruch 1939 zusätzliche Vereinbarungen getroffen, in denen etwa festgelegt wurde, daß Kriegsgefangene weiterhin ihren Sold bekommen sollten, wobei ein Wechselkurs von 1 Pfund Sterling zu 15 Reichsmark vereinbart war. Weiter verpflichteten sich beide Seiten, daß gefangene Mannschaften und Unteroffiziere monatlich zwei Briefe und vier Postkarten, Offiziere im gleichen Zeitraum drei Briefe und vier Karten an ihre Angehörigen absenden konnten und manches mehr.

Da die kriegführenden Länder keine diplomatischen Vertretungen mehr unterhielten, nahmen neutrale Staaten eine Schutzmachtfunktion ein. Darunter versteht man Staaten, die nach Kriegsausbruch von einem kriegführenden Land mit seiner Interessenvertretung betraut werden. Die Schutzmächte überwachen etwa, daß die völkerrechtlichen Grundsätze den Gefangenen gegenüber eingehalten werden. In Großbritannien war die Schutzmacht des Deutschen Reiches die neutrale Schweiz, die auch in Deutschland als Schutzmacht Großbritanniens fungierte, Sie vermittelte in Streitfällen und entsandte auch Delegierte in die Kriegsgefangenenlager. Vom IKRK zusammengestellte Ärztekommissionen untersuchten verwundete Gefangene, die zum Rücktransport in die Heimat im Rahmen eines Austauschprogrammes vorgesehen waren. Es lag im Interesse beider kriegführenden Seiten, das Völkerrecht einzuhalten, waren doch bei der Verletzung völkerrechtlicher Regelungen Sanktionen vorgesehen. So hütete sich jeder Staat, die völkerrechtlichen Vorschriften zu mißachten, weil er sonst gewärtigen mußte, daß die Gegenseite gleiches an den in ihrer Hand befindlichen Kriegsgefangenen vornehmen würde.

Solches geschah beispielsweise im Sommer 1942, als man nach der Abwehr des britischen Landungsversuches bei der französischen Stadt Dieppe getötete deutsche Kriegsgefangene fand, die gefesselt waren. Außerdem entdeckte man unter dem Beutegut einen britischen Befehl, in dem angeordnet wurde, daß deutschen Gefangenen „die Hände gebunden werden“ sollten, damit sie ihre Papiere nicht vernichten konnten. Das deutsche Oberkommando der Wehrmacht machte diese Tatsache öffentlich bekannt und drohte Repressalien an, wenn das britische Oberkommando dazu nicht Stellung bezöge. Das geschah nicht. Daraufhin wurde befohlen, „daß alle bei Dieppe gefangengenommenen britischen Offiziere ab 3. September 1942, 14 Uhr, in Fesseln gelegt werden“. Die Fesselung sollte erst beendet werden, „wenn das britische Oberkommando den Befehl, deutsche Gefangene zu fesseln, in amtlicher Bekanntmachung zurückzieht“. Umgehend reagierte die britische Seite. Sie sicherte zu, ihn zu widerrufen. Daraufhin hob das deutsche Oberkommando die Fesselung auf. Mit der Kapitulation der Wehrmacht und der sich damit auflösenden Furcht vor Repressionen gegenüber den alliierten Gefangenen in deutscher Obhut fühlten sich die Alliierten schließlich nicht mehr ans Völkerrecht gebunden – mit schrecklichen Folgen für deutsche Kriegsgefangene.

Um den Gefangenenaustausch vom Oktober 1943 durchzuführen, waren umfangreiche Vorbereitungen notwendig. Die Ärztekommission des IKRK prüfte, ob die für die Heimkehr vorgesehenen Gefangenen den vereinbarten Regeln entsprachen. Es gab eine zu Kriegsbeginn zwischen dem Reich und dem Vereinigten Königreich getroffene Vereinbarung über 19 Arten von Verwundungen, die Gefangene zur Heimsendung berechtigen sollten. Darüber entschied dann die Ärztekommission. Die Listen wurden zwischen den beiden Staaten ausgetauscht und der Weg, den die Lazarettschiffe nehmen sollten, vereinbart. Lotsen brachten die Schiffe durch die Minenfelder. Durch Funk sollte ständig Verbindung mit den Austauschschiffen gehalten werden, um sie sicher ans Ziel zu bringen.

Die Lazarettschiffe waren deutlich gekennzeichnet und wurden bei Dunkelheit angestrahlt. Zunächst liefen die Schiffe mit den deutschen Gefangenen den schwedischen Hafen Göteborg an, um weitere Gefangene an Bord zu nehmen. Die Verwundeten wurden von einer Delegation des Schwedischen Roten Kreuzes unter der Leitung der schwedischen Kronprinzessin begrüßt, und der deutsche Gesandte in Stockholm, Hans Thomsen, überbrachte die Willkommensgrüße der Reichsregierung. Dann ging die Fahrt weiter nach Stettin.

Wer Fotos von deutschen wie britischen Gefangenen sieht, dürfte sich wundern, daß sie allesamt in tadellose Uniformen gekleidet waren und ihre Kriegsauszeichnungen trugen. Das war ermöglicht durch die Einschaltung des IKRK. Die Gefangenen konnten über das Rote Kreuz neue Uniformen aus der Heimat anfordern wie auch Ersatz für die unter Umständen bei der Gefangennahme abhanden gekommenen Auszeichnungen. Den Transport und die Aushändigung organisierte das Rote Kreuz.

Eine solche faire Regelung war mit der Sowjetunion nicht möglich, und das nicht nur, weil sie die dem Schutz von Kriegsgefangenen dienenden völkerrechtlichen Abkommen nicht unterzeichnet hatte, sondern auch weil in den Augen der Sowjetführer jeder Rotarmist, der in Gefangenschaft geraten war, ein Vaterlandsverräter war, der bei eventueller Befreiung schwere Strafen zu erwarten hatte. Das geschah dann auch nach Kriegsende. Ihr Schicksal war grauenhaft.

Fotos: Bild oben und Mitte: Großer Bahnhof für die Lazarettschiffe mit Ehrenkompanie, Massenauflauf und Blumenkorso am 23. Oktober 1943 in Stettin Bild unten: Verwundete deutsche Soldaten aus britischer Kriegsgefangenschaft mit deutscher Gesandtschaft am Hafen von Göteborg 1943

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