© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

Von wegen Meisterspione
Helmut Roewer widerlegt systematisch die Mythen über Richard Sorge und die „Rote Kapelle“
Wolfgang Kaufmann

Im April 1941 registrierte die damalige sowjetische Staatssicherheitsbehörde NKGB voller Triumph, daß die Moral in Deutschland praktisch von Tag zu Tag sinke und auch die Wehrmacht durch den Virus der Unzufriedenheit gravierend geschwächt sei. Verantwortlich für diese eklatante Fehleinschätzung waren nicht zuletzt die Meldungen von Spitzenagenten wie Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen, welche dem weitverzweigten Spionagering angehörten, den Gestapo-Ermittler später in musischer Anwandlung „Rote Kapelle“ tauften.

Dabei übersah der UdSSR-Geheimdienst freilich, daß es sich bei diesen und anderen Berichterstattern zumeist um Sowjetsympathisanten handelte, für die letztlich nur das zählte, was sie sehen wollten. Zudem verkehrten die bürgerlich-intellektuellen „Kundschafter“ mit teilweise exaltiertem Lebensstil vorrangig in Kreisen Gleichgesinnter, weswegen sie die Stimmung innerhalb der normalen Bevölkerung oder gar in der kämpfenden Truppe gar nicht kennen konnten. Erst im allerletzten Moment, nämlich im Juni 1941, realisierte der Oberleutnant im Reichsluftfahrtministerium Schulze-Boysen dann endlich die wahre Lage, woraufhin er unter seinem Decknamen Starschina (Oberfeldwebel) beflissen vor einem unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriff auf das „Mutterland aller Werktätigen“ warnte.

Allerdings kam er damit bei „Väterchen“ Stalin überaus schlecht an, denn der erteilte dem NKGB-Chef Merkulow folgende unzweideutige, wenn auch praktisch nicht umsetzbare Weisung: „Schicken Sie diesen Informanten von der deutschen Luftwaffe zu seiner Hurenmutter zurück. Das ist kein Informant, sondern ein Desinformant!“ Ähnlich distinguiert reagierte der Diktator im Kreml auf eine gleichlautende Meldung des später zum „Meisterspion“ hochstilisierten Richard Sorge, welche ebenfalls kurz vor Beginn der Operation „Barbarossa“ in Moskau eintraf: Bei dem Funkspruch aus Tokio handele es sich um nichts weiter als das Lügenmärchen eines „verlogenen Arschlochs, das in Japan ein paar kleine Fabriken und Puffs betreibt und es sich gutgehen läßt.“

Hieraus kann man zweierlei schließen. Zum einen vertraute Stalin weder den Meldungen der „Roten Kapelle“ noch den Funksprüchen Sorges, was alle späteren Bemühungen um eine Apotheose der Tipgeber zu kriegsentscheidenden Schlüsselfiguren nachgerade lächerlich erscheinen läßt. Zum anderen wollte der Herrscher über das Sowjet-Imperium partout nichts von irgendwelchen deutschen Angriffsvorbereitungen hören.

Aus der Sicht des ehemaligen Thüringer Verfassungsschutzchefs und nunmehrigen Geheimdiensthistorikers Helmut Roewer, von dem jetzt der letzte Band einer Trilogie über den deutsch-russischen Agentenkrieg im 20. Jahrhundert erschien, resultierte diese Ignoranz Stalins aus einem psychischen Dilemma: Weil er selbst gerade dabeigewesen sei, einen Angriffsschlag gegen Deutschland vorzubereiten, habe er den Gedanken, daß Hitler ihn auf der Ziellinie überholen könne, schlicht und einfach verdrängen müssen.

Nun, das kann man glauben oder auch nicht – auf jeden Fall stellt sich aber tatsächlich die Frage, welchem Zweck der gigantische Aufmarsch der Roten Armee im Westen des Sowjetreiches diente, in den die Wehrmacht ab dem 22. Juni 1941 hineinstieß (zur Erinnerung: Stalin hatte eine Streitmacht an seiner Westgrenze zusammengezogen, welche unter anderem 23.000 Panzer, 79.000 Geschütze und 20.000 Flugzeuge umfaßte). Des weiteren verweist Roewer mit nochmaligem Blick auf Sorge darauf, daß es verfehlt sei, den Journalisten zum Retter der Roten Armee in der Winterschlacht vor Moskau hochzustilisieren, weil er – so eine immer wieder kolportierte Behauptung – durch seine Meldung, Tokio plane keinen Entlastungsangriff in Sibirien, Stalin dazu veranlaßt habe, die dort stationierten Verbände nach Westen zu werfen.

Die Agentenlaufbahn des angeblichen „Bordellbesitzers“ war nämlich zu diesem Zeitpunkt bereits zu Ende, da er sich implizit geweigert hatte, einem Rückruf nach Moskau zu folgen. Das freilich weiß man alles schon aus Robert Whymants Sorge-Biographie „Der Mann mit den drei Gesichtern“. Überhaupt ist es das wesentlichste Manko von Roewers Buch, daß es nicht unbedingt viel substantiell Neues bietet, sondern nur die Ergebnisse der bisherigen Forschung kompiliert. Andererseits handelt es sich hier aber doch um eine sehr umfassende und systematische Demontage falscher Mythen rund um die Geheimdienstaktivitäten während des Zweiten Weltkrieges.

So ist beispielsweise auch noch aufschlußreich, was Roewer über die weitere Karriere von Harro Schulze-Boysen zu berichten weiß: Der Kopf der später vor allem seitens der DDR-Geschichtsdichtung heroisierten „Rote Kapelle“ sei bis zu seiner Verhaftung immer unprofessioneller und selbstmörderisch-bramarbasierender aufgetreten, was kommunistische Widerstandsprofis veranlaßte, ihn nachgerade panisch zu meiden. An anderer Stelle wiederum erwähnt Roewer den Diplomaten Rudolf von Scheliha. Der ist insofern von Interesse, als er zu den Angehörigen des Auswärtigen Amtes zählte, die zur Abwechslung mal nicht unter das Verdikt eifriger Vergangenheitsbewältiger vom Schlage eines Eckart Conze oder Norbert Frei fielen, sondern – als Kämpfer gegen den Faschismus – Gedenktafeln in ihrer Behörde gestiftet bekamen. Laut Roewer handelte es sich bei dem dergestalt Geehrten allerdings um den Sowjetagenten „Arier“, der für seine regelmäßigen Meldungen an den militärischen Auslandsgeheimdienst GRU beachtliche Zahlungen auf ein Schweizer Bankkonto erhalten habe, was nicht unbedingt nur von hehrem Idealismus zeuge.

Helmut Roewer:Die „Rote Kapelle“ und andere Geheimdienstmythen. Spionage zwischen Deutschland und Rußland im Zweiten Weltkrieg 1941–1945. Ares Verlag, Graz 2010, gebunden, 472 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

Foto: Stalin, „Rote-Kapelle“-Mitglieder Harro Schulze-Boysen (rechts oben), Martha Husemann und Günther Weisenborn, DDR-Briefmarke für „antifaschistische Spione“: Warnungen vor einem bevorstehenden deutschen Angriff auf das „Mutterland aller Werktätigen“ blieben ungehört

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