© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

Wunderstoff Graphen
Physik-Nobelpreis für die Entdeckung eines zweidimensionalen Netzes aus Kohlenstoffatomen
Michael Manns

Die Rezeptur für große Erfindungen sah früher so aus: Schreibtisch, Papier, Bleistift und ein kreatives Gehirn. Noch Albert Einstein arbeitete so. Das Relativitätsgenie war vielleicht einer der letzten, der mit so sparsamen Mitteln Wissenschaftsgeschichte schrieb. Heute braucht man im allgemeinen kapitalgesättigte Großlabors und Stäbe von Mitarbeitern. Wie wichtig dennoch der graphithaltige Bleistift auch heute noch in der Physik sein kann, bewiesen der in Sotschi geborene Rußlanddeutsche Andre Geim und sein russischer Kollege Konstantin Nowoselow, denen dafür an diesem Freitag der Nobelpreis überreicht wurde: „Für ihre bahnbrechenden Experimente an einer neuartigen Modifikation von Kohlenstoff, dem Graphen.“ Zurück zum Bleistift. Zieht man damit einen Strich, bleiben winzige Graphitschuppen auf dem Papier. Kohlenstoff-Tüftler Andre Geim wollte zunächst Graphitkristalle immer weiter polieren, bis nur noch wenige Atomlagen übrigbleiben sollten. Doch es ging nicht recht voran.

Da verfielen er und Nowoselow auf eine simple Idee: Sie klebten einen Graphitkristall auf einen Streifen Tesafilm und zogen ihn wieder ab, so daß ein Plättchen Graphit an dem Film haften blieb wie ein Rest Farbe. Dann falteten sie das Klebeband und zogen von dem dünnen Plättchen eine weitere Schicht ab – und so fort. Nachdem sie diese Prozedur bis zu 20mal wiederholt hatten, hafteten an dem Klebefilm winzige Späne aus extrem dünnen Lagen.

Das war etwas fundamental Neues, das erste Material, das wirklich zweidimensional ist, eigentlich ein Hauch von Nichts. Das Gitter, ein Bienenwabenmuster von Kohlenstoffatomen, ist nicht nur der dünnste Stoff, der je hergestellt wurde, es ist auch der stabilste. Graphen leitet hervorragend Strom und Hitze. Das Material ist fast durchsichtig und zugleich so dicht, daß nicht einmal das kleinste Gasatom, Helium, hindurchpaßt. „Kohlenstoff, die Basis allen Lebens auf der Erde, hat uns erneut überrascht“, so die Nobeljury. „Die elektronische Struktur von Graphen ist einzigartig und wunderschön. Es ist hundertmal so kräftig wie Stahl“, erläutert Per Delsing vom Nobelkomitee.

Experten sagen diesem neuen Werkstoff eine grandiose Zukunft voraus. So gibt es schon eine „Graphenelektronik“, der sich mehrere Forschergrupen auf der Welt verschrieben haben. Das Physiker-Duo hat Transistoren entwickelt, die schon so gut sind wie die Klassiker aus Silizium. Transistoren aus Graphen werden voraussichtlich die heutige Siliziumtechnik ablösen, weil sie sehr viel schneller arbeiten können. Dies wird deutlich leistungsfähigere Computer ermöglichen. So hat der IBM-Konzern bereits einen elektronischen Schalter, der sich 100 Milliarden Mal pro Sekunde an- und ausschalten kann. Mit dieser Schaltfrequenz von 100 Gigahertz ist der Transistor den besten Modellen aus herkömmlichem Silizium um mindestens das Zehnfache überlegen.

Graphenschichten, die rund eine Million Mal dünner sind als ein Blatt Papier, lassen sich auf Glasscheiben und Monitore auftragen. Diese Schichten sind elektrisch leitend und verändern beim Anlegen einer elektrischen Spannung ihre Lichtdurchlässigkeit. Mit solchen Graphenbeschichtungen werden sich eines Tages intelligente Fensterscheiben herstellen lassen, deren Lichtdurchlässigkeit stufenlos regelbar ist, oder durchsichtige Tast- und Sensorbildschirme („Touchscreens“).

Ob Transistoren, DNA-Sequenzierung oder schnelle Datenübertragung durch Glasfasern sowie für den lichtempfindlichen CCD-Chip, der heute in jeder Digitalkamera eingebaut ist – die Anwendungsmöglichkeiten des zweidimensionalen Gitters sind vielfältig. Wird Graphen mit Kunststoff vermischt, wird es hitzebeständig und mechanisch robust. Diese Widerstandsfähigkeit wird in neuen superstarken Materialien genutzt. Die Erfolgsformel lautet: dünn, elastisch und leicht muß alles sein. Die sensationellen mechanischen Eigenschaften von Graphen prädestinieren es als Werkstoff zum Bau von Flugzeugen und Satelliten. Doch auch das Elektroauto der Zukunft wird wahrscheinlich aus Graphen und nicht mehr aus Blech gebaut werden.

Aber auch die Grundlagenforschung in der Physik könnte vom Graphen profitieren. Die Elektronen im Graphen bewegen sich durch die Materie, als ob sie keine Masse hätten und rasend schnell (Tempo: rund eine Million Meter pro Sekunde). Sie verhalten sich ähnlich wie Lichtpartikel (Photonen).

Aufgrund der Analogie zum Licht ist Graphen für Quantenphysiker interessant, da sie nun quantenmechanische Effekte in viel kleinerem Maßstab untersuchen können. Vieles ließ sich bisher nur theoretisch abhandeln, wie etwa der Tunneleffekt. Dieser beschreibt, wie Teilchen gelegentlich molekulare Barrieren überwinden. Die Elektronen im Graphen lassen sich von molekularen Hindernissen nicht aufhalten und sausen frei durchs Kohlenstoffnetz. Das wäre so, wie wenn ein Mensch in unserer Welt einfach so durch die Wand gehen könnte.

„Ich hoffe, daß es genauso unser Leben verändern kann wie Plastik“, sagt Geim. Das Preisgeld des schwedischen Nobelkomitees: je 500.000 Euro für jeden der beiden Graphen-Genies. Dabei war Geim im vorigen Jahr schon einmal ausgezeichnet worden: Er hatte den mit 750.000 Euro dotierten Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft erhalten. Und auch einen Nobelpreis hatte er schon einmal erhalten, den „Ig Nobel“-Preis für Physik (www.improbable.com/ig/). Ignobel bedeutet eigentlich unwürdig, schmachvoll oder schändlich. Hier geht es jedoch eher um skurrile Forschungen. Was war passiert?

Geim hatte einen Frosch zum Schweben gebracht. In entsprechend starken Magnetfeldern werden Objekte wie Wassertropfen oder Haselnüsse nach oben gezogen. Ist die Kraft genauso groß wie die Anziehungskraft der Erde, so blieben die lebenden oder toten Objekte in der Schwebe. Rein theoretisch ist das auch beim Menschen möglich.

„Wenn man keinen Sinn für Humor hat, ist man in der Regel auch kein guter Wissenschaftler“, kommentierte Geim. „Die Leute verstehen nicht, daß gute Wissenschaft nicht unbedingt langweilig sein muß.“

Foto: Graphen besteht aus einer einzigen Lage extrem stabil verbundener Kohlenstoffatome – hier aufgerollt als Kohlenstoffnanoröhre: Bevor graphenartige Materialien eingesetzt werden können, sind noch einige technologische Hürden bei ihrer Herstellung zu überwinden

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