© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/10 17. Dezember 2010

Die Transfer-Gesellschaft
Hartz-IV-Debatte: Soziale Gerechtigkeit heißt, daß Ungleiches nicht gleich behandelt wird
Kurt Zach

Mal wieder Stillstand bei der Reform der sozialen Fürsorgesysteme. Der erbitterte Streit um die maßvolle Anhebung der Regelsätze und ein auf die Kinder gerichtetes Zusatzpaket für das, was man heute so unter „Bildung“ versteht, offenbart die Oberflächlichkeit des einseitig auf die Nehmerseite ausgerichteten deutschen Sozialdiskurses, der seine Grundlagen – die Begriffe Solidarität und Gerechtigkeit – nie geklärt hat.

Zu wenig, tönt monoton die linke Gebetsmühle. Die geringe Anhebung sei ein Hohn, von den Regelsätzen könne man nicht menschenwürdig leben. Wirklich? Aus empfängerfixierter Perspektive wird gern übersehen, daß die pro Kopf ausgezahlten 359 (oder 364) Euro nicht mit dem Nettoverdienst berufstätiger Arbeitnehmer, sondern mit deren frei verfügbarem Einkommen nach Abzug beinahe aller laufenden Fixkosten wie Wohnung, Heizung, Sozialbeiträge zu vergleichen sind. Mancher alleinernährende, jeden Morgen früh aufstehende Familienvater hat da pro Nase weniger in der Kasse.

Zum in der Verfassung verankerten Sozialstaatsbegriff gehört nicht nur der Anspruch des Hilfebedürftigen auf angemessene „gesellschaftliche Teilhabe“, sondern auch das Lohnabstandsgebot. Während der dehnbare Begriff „Teilhabe“ in der Vergangenheit allzu oft als williges Vehikel zur steten Ausweitung von Leistungskatalogen herhalten mußte, mahnt das Lohnabstandsgebot, daß soziale Gerechtigkeit auch eine Sache zwischen den Empfängern und den Gebern sozialer Leistungen ist – den Steuer- und Abgabenzahlern nämlich. Das Einkommen aus Sozialtransfers darf nicht höher sein als das mögliche Einkommen aus Erwerbstätigkeit, lautet seine Botschaft. Dieses Prinzip ist im Umverteilungsstaat mit Vollkaskoversprechen gründlich in Vergessenheit geraten. Vor allem in wohlhabenderen Großstädten summieren sich Pflichtleistungen des Bundes und der Kommunen mit freiwilligen Zusatzvergünstigungen mitunter zu beachtlichen Transfereinkommen, die gerade Geringqualifizierte durch Erwerbstätigkeit kaum je erreichen könnten.

Der Sozialstaat setzt damit fatale Fehlanreize, die ihn – würden sie aus rational-materialistischer Sicht konsequent und vollständig ausgeschöpft – implodieren lassen könnten: Die ihn tragende Mittelschicht – jene also, die weder zuviel noch zuwenig besitzen, um vom Umverteilungssystem profitieren zu können – zweifelt an der Sinnhaftigkeit der von ihr geschulterten steigenden Lasten, die Zahl derer, die in Versuchung geführt werden, das Leben von der Hand in den Mund von geringem Erwerbseinkommen mit höherem Transfereinkommen zu vertauschen, nimmt potentiell zu. Daß die Mehrzahl dennoch die Lasten willig weiter trägt und der Versuchung nicht nachgibt, hat nicht zuletzt ethische Gründe: das der Selbstachtung geschuldete Bedürfnis, sich und seine Familie selbst zu ernähren und den eigenen Kindern diese Werte vorzuleben. Im Sozialwesen bestätigt sich am nachdrücklichsten Ernst-Wolfgang Böckenfördes Diktum, der moderne Staat lebe von Voraussetzungen, die er nicht selbst schaffen und garantieren könne. Gerechtigkeit, auch die „soziale“, beruht auf sorgfältiger Unterscheidung. Daß das Hartz-IV-System weithin als ungerecht empfunden wird, hat wenig mit vermeintlich zu niedrigen Leistungen zu tun, sondern damit, daß Ungleiches gleich behandelt wird. Der nach Jahrzehnten solidarischen Beitragzahlens ins Abseits gerutschte Langzeitarbeitslose wird faktisch demjenigen gleichgesetzt, der es von vornherein darauf anlegt, auf Kosten anderer zu leben.

Das rührt an die Grundfesten der Solidarität, besonders wenn der Empfänger mit diesem Ziel ins Land gekommen ist, angelockt von einem an den Verhältnissen seines Herkunftslandes gemessen geradezu märchenhaften Niveau an Transfereinkommen. Die Solidargemeinschaft eines hochentwickelten Sozialstaates verlangt nach fester Abgrenzung. Der Wohlfahrtsstaat steht damit im direkten Widerspruch zum Konzept des Einwanderungslandes, das die Besten aus aller Welt anziehen will und ihnen statt sozialer Sicherheit Chancen zur Entfaltung ihrer Talente bietet. Je höher das Niveau der gegenseitigen sozialen Absicherung, desto sorgfältiger muß eine Solidargemeinschaft auswählen, wen sie in ihre Reihen aufnimmt. Das ist nicht der einzige Widerspruch, der gelöst werden muß, soll die dringend gebotene Reform der überlasteten sozialen Sicherungssysteme in Angriff genommen werden. Aus Zeiten des Überflusses werden zahlreiche entbehrliche Wohltaten mit sich herumgeschleppt. Die zum Gegenstand einer vielbeachteten Online-Petition gewordenen Abkommen mit der Türkei und anderen Ländern, die ausländische Versicherte durch kostenlose Mitversorgung ihrer in der Heimat lebenden Angehörigen gegenüber einheimischen privilegieren, sind nur ein Beispiel für die fatalen Folgen einer unbedachten Entgrenzung der Solidargemeinschaft.

Damit kein Mißverständnis aufkommt: Die Krise der Sozialsysteme ist auch, aber keineswegs in erster Linie eine Folge falscher Einwanderungspolitik. Der Schlüssel zur Sozialreform liegt im dringend notwendigen Paradigmenwechsel, den sowohl die Politik als auch die Bürger vollziehen müssen. Weg vom Ruf nach Vater Staat als Helfer in allen Lebenslagen, weg von der lähmenden und unwürdigen Entmündigung durch übermächtige Betreuungs- und Umverteilungsapparate. Das Umdenken beginnt mit der Erkenntnis, daß die wahren Schmarotzer nicht bei den Hilfeempfängern, sondern bei den Profiteuren der Sozialindustrie zu suchen sind. Es gelingt, wenn Freiheit und Eigenverantwortung des Menschen als Grundlage seiner Würde anerkannt werden. Das verlangt, daß der Staat sich zurücknimmt, Einmischung und Umverteilung auf diejenigen beschränkt, die sich nicht aus eigener Kraft helfen können, und dabei klare und feste Grenzen zieht und auch einhält.

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