© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/10 17. Dezember 2010

Die Macht ist mit uns
Bürgerrechte: Der Fall Wikileaks berührt das Verhältnis von Politik und Informationsfreiheit
Baal Müller

An Wikileaks scheiden sich derzeit weltweit die Geister. Die Parteinahme für oder gegen die Enthüllungsplattform, die Hunderttausende vertraulicher Dokumente aus US-Diplomatenkreisen publiziert hat, nimmt durchaus hysterische Züge an, wie die Äußerungen amerikanischer Politiker zeigen, die Wikileaks-Gründer Julian Assange als Staatsfeind betrachten und sogar die Todesstrafe für ihn fordern; dasselbe gilt aber auch für Parolen von Unterstützern des investigativen Netzwerks, die bei Demonstrationen Transparente mit der Aufschrift „In Wikileaks we trust“ hochhalten.

Ungeachtet solcher Zuspitzungen sind nicht nur Staaten, Parteien und Institutionen von diesen Veröffentlichungen betroffen, sondern der Fall Wikileaks berührt das Verhältnis von Politik und Informationsfreiheit insgesamt. Dabei sind einige Argumente beider Seiten nicht voreilig von der Hand zu weisen: Mag man die Besorgnis staatlicher Organe über die Sicherheit von Informanten in Ländern wie dem Irak oder Afghanistan für vorgeschobenen Moralismus halten, da diese selbst zuweilen „Kollateralschäden“ in weit größerem Ausmaß in Kauf nehmen, so stellt sich doch die Frage nach der Legitimität solcher Enthüllungen. Was in bezug auf Diktaturen angebracht sei, dürfe – so etwa die Federation of American Scientists – nicht einfach auf demokratische Rechtsstaaten übertragen werden.

Zweifellos gibt es auch in mehr oder weniger offenen und pluralistischen Gesellschaften sensible Bereiche, die nicht jedermann zugänglich sein können; und die totale Teilhabe aller an allem ist eine Illusion, die sich von der entgegengesetzten Schreckensvorstellung des permanent staatlich kontrollierten, durchleuchteten Bürgers gar nicht so sehr unterscheiden würde, schließlich negieren beide das Persönlichkeitsrecht auf Privatsphäre. Und wenn das „whistleblowing“, die Aufdeckung von Geheimnissen, als Demokratisierung ausgegeben wird, weil dadurch „undemokratische Praktiken“ publik gemacht würden, so ist dies gerade unter demokratischen Prämissen fragwürdig, da die gewählte Politik westlicher Gesellschaften immerhin noch eine gewisse demokratische Legitimation besitzt, die Privatleute wie Assange und andere „Robin Hoods“ der globalen Zivilgesellschaft grundsätzlich nicht haben können.

Möglicherweise ist dies jedoch mehr Theorie oder frommer Wunsch als politische Realität, da diese längst im Begriff ist, Züge anzunehmen, die von Politologen als „postdemokratisch“ bezeichnet werden: Äußere Institutionen bleiben unangetastet, aber hinter ihnen vollzieht sich ein schleichender Wandel, bei dem das Volk als Souverän durch die „Alternativlosigkeit“ politischer Entscheidungen immer mehr entmachtet wird.

Diese vermeintliche Alternativlosigkeit folgt aber weniger aus unumstößlichen Geboten politischer Vernunft, sondern resultiert aus der Profillosigkeit einander weitgehend angeglichener Parteien, die potentielle Konkurrenten mit oft unlauteren Mitteln von politischer Teilhabe ausschließen, sowie aus der Reduktion von Parlamenten zu Durchwink­anstalten von EU-Verordnungen.

Parallel dazu wird der „mündige Bürger“ von den Massenmedien zum Konsumenten vorgefertigter Meinungen degradiert, wogegen er sich in letzter Zeit jedoch zunehmend zur Wehr setzt, wie jeder Blick in den Kommentarbereich der Online-Ausgaben von Zeitungen und Nachrichtenmagazinen zeigt, sofern dieser nicht wegen redaktionell unerwünschter Meinungen zensiert und geschlossen wird.

Zweifellos hat das Sendungsbewußtsein eines Assange Züge von Maßlosigkeit, und die Enthüllungsaktionen von Wikileaks sowie die jüngsten erfolgreichen Hackerangriffe seiner Anhänger auf Firmen wie Mastercard und Paypal, die Wikileaks ihre Zusammenarbeit aufgekündigt haben, sind ebenso deutliche Anzeichen einer „Privatisierung“ der Macht, einer Verlagerung des Kräfteverhältnisses von demokratischen Nationalstaaten zu transnationalen Organisationen, Religionsgemeinschaften, globalen Unternehmen und den mit großen Sympathieboni ausgestatteten „Nichtregierungsorganisationen“, aber auch zur organisierten Kriminalität, zu tribalen Clans, Warlords und Terrorgruppen.

Allerdings haben die Repräsentanten der Nationalstaaten, die nun die Angst vor einer Verschiebung des Machtgefüges umtreibt, durch ihren Verzicht auf Souveränitätsrechte zu dieser Entwicklung selbst erheblich beigetragen; und auch ihre konkreten Vorwürfe gegen den für so gefährlich gehaltenen Assange sind recht dürftig – bislang konnten die USA trotz fieberhafter juristischer Suche noch keine hieb- und stichfeste Klage gegen ihn formulieren, zumal er als australischer Staatsbürger nicht gegen Dienstvorschriften für US-Behörden verstoßen haben kann.

Zudem dürfte eine Abwägung staatlicher Geheimhaltungsrechte gegen das Interesse der Medien an einer Berichterstattung, die sich auf möglichst unterschiedliche und nicht politisch vorgegebene Quellen und Positionen stützt, heute zu dem Ergebnis kommen, daß wir nicht zuviel, sondern zu wenig wirkliche Pressefreiheit haben. Zwar erscheint die Macht der Medien gewaltig, wenn sie etwa in Kampagnen gegen politisch unkorrekte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zum Einsatz kommt, aber die Gleichförmigkeit der dahinterstehenden Diskurse offenbart den geringen Grad ihrer Freiheit. Insofern ist Wikileaks, wie auch zahlreiche andere Internetplattformen und Online-Foren, die mittlerweile eine breite Gegenöffentlichkeit zu der von den Medienkonzernen gesteuerten „öffentlichen Meinung“ gebildet haben, ein Korrektiv zu den „kommunizierenden Röhren“ (André Breton) von „alternativloser“ Politik und Massenmedien, die gemeinsam die Öffentlichkeit konstruieren.

Ohne in Schwarzweißmalerei zu verfallen und den exzentrischen Egomane Assange als Märtyrer zu feiern, sollte dessen Tätigkeit angesichts der Verfassungswirklichkeit der Meinungs- und Pressefreiheit gerade auch in Deutschland und nicht zuletzt von konservativer Warte aus – trotz klassisch konservativer Orientierung an staatlichen Institutionen – begrüßt und als Praxis einer neuen Bürgerrechtsbewegung angesehen werden.

Foto: Logo der Internetseite von Wikileaks und Fahndungsaufruf Interpols zur Ergreifung von Julian Assange: In den Fängen der Justiz

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