© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/10 17. Dezember 2010

Träume von einer dritten Front
Eine kurze Geschichte der konservativen Intelligenz nach 1945 (III): Exkurs 1 – Die Nationalen
Karlheinz Weissmann

Im Februar 1950 sprach der Schriftsteller Hans Grimm auf Einladung des AStA der Universität Kiel vor großem Publikum über das Thema „Mein europäisches Bekenntnis“. Hintergrund war die anhaltende Diskussion seiner Erzbischofsschrift, die als Antwort auf einen Appell des Erzbischofs von Canterbury an die Deutschen gedacht und im Jahr zuvor erschienen war. Die Erzbischofsschrift wurde nicht nur ein großer Verkaufserfolg, sie provozierte auch Stellungnahmen in allen führenden Blättern.

Grimm war in dieser Zeit die Zentralfigur des „nationalen Lagers“ oder der „nationalen Opposition“, die nach Gründung der Bundesrepublik einen gewissen politischen Rückhalt in kleineren Parteien wie der Deutschen Rechts- beziehungsweise Reichspartei (DRP) hatte, aber auch in Landesverbänden der FDP maßgeblichen Einfluß besaß und ansonsten aus einer Menge von Bünden und Vereinigungen bestand und einer schwer einschätzbaren Zahl von Sympathisanten, die sich aus taktischen Gründen mit einem offenen Bekenntnis zurückhielten.

Die „Nationalen“ einte bei aller Heterogenität die Überzeugung, daß „nicht alles schlecht“ war, daß die Siegermächte ihrerseits Schuld auf sich geladen hätten, daß das Bündnis des Westens mit der Sowjetunion als fataler Irrtum zu betrachten sei und es legitim bleibe, an so etwas wie einem „Nationalsozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu arbeiten. Was den ersten und den zweiten Punkt betraf, durfte man zumindest auf die Zustimmung einer breiteren Öffentlichkeit rechnen. Allerdings blieb undeutlich, was im einzelnen „nicht schlecht“ gewesen war. Klarer konturiert erschien die Notwendigkeit, sich offen mit den Ereignissen zwischen 1945 und 1949 auseinanderzusetzen.

Nach dem formalen Ende der Besatzungszeit – und das hieß auch: nach dem Ende der alliierten Zensurmaßnahmen – begann jedenfalls eine öffentliche Debatte, und der Widerwille gegen die „reeducation boys“ (Henri Nannen) schien genauso allgemein wie die Überzeugung, daß die Entnazifizierung ein Fehlschlag war. Den Vorgang der Okkupation hatten die meisten Deutschen noch in lebhafter und schlechter Erinnerung, die Entdeckung von einhundert Leichen auf dem Gelände des Zuchthauses Hameln, Überreste von „Kriegsverbrechern“, die die Briten dort heimlich liquidiert hatten, beschäftigte die Bevölkerung Anfang der fünfziger Jahre genauso wie das jetzt aufgedeckte Verhalten der Kapitulationsgewinnler. Der Prozeß gegen den zweiten Direktor der Städtischen Girokasse Stuttgart etwa, einen Martin Richter, den die Amerikaner 1945 eingesetzt hatten, weil er „unbelastet“ war, erregte bundesweit Aufsehen, nachdem ihn ein Gericht der passiven Bestechung und Untreue schuldig sprach und sich herausstellte, daß er schon 1929 wegen Ermordung seiner Geliebten verurteilt worden war.

Deutlich gebündelt fand man vieles von dem, was die Menschen bewegte, in Ernst von Salomons autobiographischer Reportage „Der Fragebogen“. Das Buch wurde in kurzer Zeit mehr als 250.000 Mal verkauft, bei einer öffentlichen Diskussion mußte die Halle des Kölner Hauptbahnhofs, wo die Veranstaltung stattfand, wegen Überfüllung geschlossen werden. Ursache der Resonanz war vor allem, daß Salomon konsequent die Perspektive des „kleinen Mannes“ beibehielt, und die Art, wie er seine Internierung durch die Amerikaner nach Kriegsende schilderte, die Schikanen und Mißhandlungen durch GIs, die Zustände in den Lagern.

Das war eine ungewohnt offene Kritik an den Siegern von gestern, die jetzt als Freunde und Verbündete auftraten und deren Rolle in der Nachkriegszeit die Spitzen des Bonner Staates möglichst beschwiegen wissen wollten. Die Massivität der Zustimmung für Salomon führte zu Beunruhigung im In- wie im Ausland, mancher wünschte ein alliiertes Durchgreifen gegen den renitenten Autor, der einflußreiche britische Publizist Hugh Trevor-Roper warnte, hier habe man die „heimliche Bibel“ der Deutschen, ein Buch, das sie die Lektionen von 1945 vergessen lassen werde.

Die Angst vor einem Aufflammen des deutschen Nationalismus war angesichts von jahrelanger Besetzung und kollektiver Demütigung, Abtrennung der Ostprovinzen und Teilung des Restes durchaus plausibel. Allerdings zeigte sich relativ bald, daß nur eine Minderheit willens war, auf Radikalisierung und ältere politische Konzepte zu setzen, was bedeutet hätte: Vorrang für die Wiedervereinigung, nationale Souveränität, Äquidistanz zu Washington wie Moskau, bewaffnete Neutralität.

Für einiges aus diesem Konzept waren Salomon oder sein Verleger Ernst Rowohlt durchaus zu haben, aber die alten Träume von der „dritten Front“ hatten angesichts der massiven sowjetischen Bedrohung viel von ihrer Anziehung verloren. Das Liebäugeln mit den Linksneutralisten und einer Szene, die entweder philokommunistisch oder kommunistisch unterwandert war, führte zuletzt immer in die Isolation.

Bezeichnend ist auch, daß die Sympathie einflußreicher konservativer Journalisten, Hans Zehrers und Paul Sethes, für ein Deutschland zwischen West und Ost das Scheitern auf der ganzen Linie nicht verhindern konnte. Zehrer korrigierte seinen Kurs, nachdem Sondierungen in Moskau mit einem Desaster endeten, Sethe, nachdem ihn die direkte Intervention Adenauers um seinen Posten als Redakteur der FAZ gebracht hatte.

Keiner dieser Männer wäre bereit gewesen, ins „nationale Lager“ überzugehen. Vielleicht wären die Vorbehalte geringer gewesen, wenn sich die FDP in der Bundesrepublik zu einer Partei nach dem Muster der „Freiheitlichen“ in Österreich entwickelt hätte. Aber darauf konnte man nach der „Naumann-“ und der „Schlüter-Affäre“ nicht mehr hoffen.

Das Eingreifen der britischen Besatzungsmacht, die Empörung im In- und Ausland über die „Nazi-FDP“ (Heuss dixit) trafen zusammen mit dem Entschluß der innerparteilichen Gegner, eine unliebsame Konkurrenz zu erledigen. Friedrich Middelhauve, der Vorsitzende der nordrhein-westfälischen Freidemokraten und wichtigste Verfechter des Projekts „nationale Sammlung“, zog sich zurück. Versuche einer Intellektualisierung der Partei, wie sie etwa von dem Unternehmer Gert Spindler und dem Umfeld seiner Wochenzeitung Der Fortschritt ausgegangen waren, hatten zu dem Zeitpunkt ihre Strahlkraft schon verloren.

Letztlich gab den Ausschlag die Stellung zu der Frage, ob man es mit einem „anständigen Nationalsozialismus“ versuchen sollte. Entsprechende Bemühungen Grimms – von der Wiederaufnahme der Lippoldsberger „Dichtertage“ bis zur Beteiligung an der Zeitschrift Nation Europa – liefen ins Leere, da er nur diejenigen Köpfe gewinnen konnte, die sich durch ihre Haltung in der NS-Zeit diskreditiert hatten, wie etwa die Schriftsteller Heinrich Anacker, Bruno Brehm, Hans Venatier oder Hermann Claudius. Alle anderen, auf die er rechnete, hielten Abstand. Das galt für Ernst Jünger genauso wie für Wilhelm Stapel. Es machte sich im weiteren auch Grimms Alter bemerkbar und die Tatsache, daß die Ausdrucksformen des „nationalen Lagers“ mit ihrem Rückgriff auf völkische und bündische Traditionslinien immer weniger zum Zeitstil paßten.

Die skizzierte Entwicklung war allerdings erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre abzusehen. 1955 hatte die schleswig-holsteinische Landesregierung noch ein Redeverbot gegen Grimm verhängt, der für die DRP zum Bundestag kandidierte und bei seinen öffentlichen Auftritten eine beunruhigend große Zuhörerschaft fand. 1959 starb Grimm. Die „Dichtertage“ wurden fortgesetzt, aber die Resonanz ging immer weiter zurück.

Zu den regelmäßigen Teilnehmern gehörte noch ein junger Mann, Bernward Vesper, Sohn des – wie es wegwerfend hieß – „Nazi-Barden“ Will Vesper, jugendlicher Anhänger der Reichspartei und Verehrer Grimms. Vesper fuhr damals durch Westdeutschland, um Unterstützung für den Plan zu finden, eine Werkausgabe seines Vaters zu veröffentlichen. Damit war es nichts. Aber einige Jahre später wird Vesper zu den Symbolfiguren der APO gehören und eines ihrer Kultbücher, „Die Reise“, schreiben, auch eine Abrechnung mit seiner Herkunft und allen, „die einem vertrottelten Traum vom Tausendjährigen Reich anhingen“; in seiner Begleitung befand sich immer eine junge Frau, die ihn unterstützte. Ihr Name: Gudrun Ensslin.

Den vierten Teil dieser auf insgesamt acht Folgen angelegten JF-Serie des Historikers Karlheinz Weißmann lesen Sie kommende Woche in der JF-Ausgabe 52/10.

Foto: Auf festem Grund: In den fünfziger Jahren wollte das „nationale Lager“ auf völkische und bündische Traditionslinien zurückgreifen

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