© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/10 17. Dezember 2010

Es gibt keine Kollektivschuld
Konrad Löw untersucht anhand vieler Quellen das Verhältnis des deutschen Volkes zum Judenmord
Klaus Motschmann

Nach einem bekannten Diktum zum Verständnis kontroverser politischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen wird die Geschichte immer von den Siegern geschrieben; selbstverständlich immer auch nach deren politischer Interessenlage und den vorherrschenden ideologischen Grundpositionen.

In Deutschland verhält es sich nach 65 Jahren Vergangenheitsbewältigung und 40 Jahren Kulturrevolution inzwischen genau umgekehrt. Die Geschichte wird hier gewissermaßen von den Besiegten geschrieben; selbstverständlich ebenfalls nach Maßgabe der genannten politischen und ideologischen Interessen der ehemaligen Sieger.

Der Nestor der deutschen politischen Soziologie, Max Weber, hat kurz vor seinem Tod 1920 mit Blick auf die sogenannte Kriegsschuldlüge nach dem Ersten Weltkrieg vor einer derartigen Fixierung auf Schuldzuweisungen und Schuldbekenntnisse an hervorragender Stelle gewarnt: „Anstatt sich um das zu kümmern, was den Politiker angeht, die Zukunft und die Verantwortung vor ihr, befaßt sie sich mit politisch sterilen, weil unaustragbaren Fragen der Schuld in der Vergangenheit. Dies zu tun, ist politische Schuld, wenn es irgendeine gibt.“

Man ist zur Stützung dieser Aussagen nicht auf Randbemerkungen dritter oder vierter Hand angewiesen. Man kann sich auf Schlüsselaussagen der ehemaligen Feindmächte berufen, zum Beispiel auf den amerikanischen Hauptankläger Robert Jackson anläßlich der Eröffnung des Nürnberger Prozesses 1945: „Wir möchten klarstellen, daß wir nicht beabsichtigen das deutsche Volk zu beschuldigen. Wenn die breite Masse des deutschen Volkes das nationalsozialistische Programm willig angenommen hätte, wäre die SA nicht nötig gewesen, und man hätte auch keine Konzentrationslager und keine Gestapo gebraucht.“

Ähnlich hatte sich bereits während des Krieges Stalin geäußert. Er erklärte, daß das deutsche Volk nicht für die Verbrechen der „Nazi-Clique“ verantwortlich gemacht werden sollte. In seinem früher viel zitierten Tagesbefehl vom 23. Februar 1942 (dem Gründungstag der Roten Armee im Jahr 1918) betonte er das Kriegsziel, daß die Rote Armee keinen Krieg gegen das deutsche Volk und zur Vernichtung des deutschen Staates führe: „Das ist natürlich ein dummes Gefasel und eine törichte Verleumdung der Roten Armee. Solche idiotischen Ziele hat die Rote Armee nicht und kann sie nicht haben. (...) Es wäre lächerlich, die Hitler-Clique mit dem deutschen Volk und dem deutschen Staat gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt“ (Werke 14,266).

In diesem Sinn antwortet das KPD-Programm vom Juni 1945 auf die konkrete Frage nach der Schuld, daß allenfalls die zehn Millionen Deutschen eine „Mitschuld“ am Aufstieg Hitlers hatten, die ihn bei der letzten freien Wahl im November 1932 gewählt haben, das heißt: 33 Prozent der Wähler. Auch bei den Märzwahlen 1933 kurz nach der Machtergreifung Hitlers erreichte die NSDAP „nur“ 44 Prozent – ein beachtliches Ergebnis, aber eben nicht die Mehrheit des deutschen Volkes. Zu bedenken ist auch, daß sich die KPD selbstkritisch zu einer Mitschuld am Aufstieg Hitlers bekannte, weil sie in der Endphase der Weimarer Republik den „Hauptstoß“ nicht gegen die Nationalsozialisten geführt hat, sondern gegen deren „Zwillingsbruder“, die „sozial-faschistische“ SPD. Wie immer man diese Ereignisse und Ergebnisse auch beurteilt: Zur Stützung der Kollektivschuldthese eignen sie sich nicht. Im Gegenteil: Sie dokumentieren ein breites Einvernehmen in der Ablehnung einer deutschen Kollektivschuld.

Dieses Einvernehmen besteht heute nicht mehr. Wer sich heute auf die zitierten Positionen der ehemaligen Feindmächte beruft, muß mit massiven Widersprüchen und intellektuellen Verdächtigungen rechnen. Eine verantwortliche wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung ist in diesem Klima von Ignoranz und Arroganz kaum noch möglich, weil auch noch so eindeutige Argumente gegen die Kollektivschuldthese systematisch ignoriert werden.

Die erforderlichen Einzelnachweise liefert seit langem Konrad Löw in seinem beharrlichen, akademischen und publizistischen „Kampf wider das Vergessen“. Löw weist auch in dem angezeigten Buch auf Grundlage seiner umfangreichen und akribischen Quellenstudien nach, daß das Volk anders war als viele Ankläger behaupten. Eine Kollektivschuld des deutschen Volkes beziehungsweise einer Mehrheit des Volkes läßt sich demzufolge nicht rechtfertigen.

Löws Darstellung stützt sich auf die Zeugnisse von Zeitzeugen aller Art: von politisch Verfolgten, deutschen, ausländischen und jüdischen Publizisten und Intellektuellen, ausländischen Diplomaten und Politikern, aber auch den unbekannten kleinen Mann auf der Straße. Es sind teils sehr spontane Reaktionen, teils sehr abgewogene literarische Beobachtungen aus dem Alltag. Als eine besonders ergiebige und zuverlässige Quelle haben sich für Löw die „Deutschlandberichte der SPD“ (Sopade) erwiesen, die vom Exilvorstand der SPD (Otto Wels, Erich Ollenhauer, Paul Löbe, Friedrich Stampfer) herausgegeben wurden, zunächst in Prag, ab 1938 in Paris. Es handelt sich um eine Vielzahl von Einzelfällen, die Löw aber wie Mosaiksteinchen zu einem eindrucksvollen Panorama einer wichtigen Epoche unserer Geschichte zusammengefügt hat. Tolle lege! – Nimm und lies.

Konrad Löw: Deutsche Schuld 1933–1945? Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen. Olzog-Verlag, München 2010, gebunden, 446 Seiten, 39,90 Euro

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