© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Der Christstollen. Der duftige Weihnachtskuchen verbirgt mehr, als man vermutet.
Leib der Weihnacht
Christian Vollradt

Der prächtige, schneeweiße Christstollen gehört zur typisch deutschen Weihnachtszeit wie der in Hamburg erfundene Adventskranz (JF 52/06) oder der aus der Oberlausitz stammende, heute äußerst populäre Herrnhuter Stern (JF 51/10). Und dabei ist die weiße Pracht aus Sachsen viel mehr als nur ein Weihnachtskuchen: Mit seiner Wickelform sowie dem allerdings erst viele Jahrhunderte später beigefügten Puderzucker soll der Stollen – regional auch „die Stolle“ – die Deutschen an das in Windeln gewickelte Jesuskind erinnern. Und er war keineswegs immer die butterfette Köstlichkeit, die er heute ist – ganz im Gegenteil.

Ursprünglich war das „Christbrod“ eine magere Fastenspeise, die – entsprechend der Regel der Enthaltsamkeit in der Vorweihnachtszeit – ohne tierisches Fett auskommen mußte. Erst 1491 erteilte Papst Innozenz VIII. mit seinem „Butterbrief“ auf Drängen der sächsischen Kurfürsten Dispens – gegen eine Gebühr, die zum Bau des Freiberger Doms verwendet wurde.

Überhaupt die Sachsen: 1329 wird das Gebäck erstmals urkundlich erwähnt, jedoch nicht in Dresden – der wohl berühmtesten Stollen-Stadt –, sondern in Naumburg an der Saale.

1730 ließ sich August der Starke einen knapp zwei Tonnen schweren Stollen backen, nachdem einer seiner Vorgänger noch den „Dresdner Stollenkrieg“ beenden mußte; beim Streit ums Monopol zur Belieferung des Hofes gingen die Bäcker der Stadt recht handfest gegen ortsfremde Konkurrenten vor.

Ende der zwanziger Jahre nannte eine Fachzeitschrift den Christstollen ein „echt sächsisches Nationalgebäck“. Der Sachse „titsche“ seine Stollen am liebsten in den Kaffee ein.

Selbst die sozialistische Planwirtschaft rührte nicht an dieser sächsischen Institution und privilegierte den Dresdner gegenüber dem Mecklenburger Stollen: mit höheren „Einsatzmengen“ importierter Rosinen. Um dem Mangel beizukommen, erfanden DDR-Chemiker Ersatzstoffe: „Rosinen“ wurden aus Treber-Apfelmasse hergestellt, und als Zitronat-Stellvertreter hielten grüne Tomaten her, genauso wie Karotten für Orangeat.

Heutzutage ist nicht der Mangel das Problem, sondern sein Gegenteil: Billige Massenware überschwemmt schon Ende August die Supermarktregale. Was an handwerklicher Wertschätzung fehlt, ersetzen sie durch Zucker und Marzipan, den Rest besorgt die sommerliche Hitze.

Wer dagegen bewußt zu den Quellen der Tradition zurückkehren möchte, kann – auch per Post – den ursprünglichen Christstollen aus einer der zahlreichen Backstuben und kleinen Manufakturen in Sachsen beziehen. Er kann dann ein unvergleichliches Gebäck (mit oder ohne Kaffee) in der Advents- und Weihnachtszeit genießen – und vielleicht wie früher üblich ein letztes Stückchen bis zum Ostersonntag aufbewahren, um schließlich auch diesen Rest zu verzehren. Der heilsgeschichtliche Bogen von der weihnachtlichen Geburt über den Tod bis zur Auferstehung Jesu Christi läßt sich auf diese Weise quasi mit allen Sinnen erfahren.

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