© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Pankraz,
Prof. Han und das Spiel der Müdigkeit

Rhetorisches Bleigießen zum Jahreswechsel: Byung-Chul Han (38), wortgewaltiger Heideggerschüler aus Südkorea, der in Deutschland studiert hat und heute Professor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe ist, verkündet das Ende des „bakteriologischen“ und den Anbruch des „neurologischen Zeitalters“. In einem im Berliner Verlag Matthes & Seitz erschienenen Büchlein macht er klar, was das für jeden einzelnen von uns bedeutet, nämlich den „totalen Paradigmenwechsel“.

Früher, im bakteriologischen Zeitalter, drehte sich alles um die Abwehr äußerer Zumutungen, die eigene Identität zerstörender Angriffe, ob es nun Angriffe krankmachender Viren oder fremder Ethnien respektive Polit-Systeme waren. Wir wurden darüber alle zu gewieften Immunologen, Verteidigungsexperten, Helden der Negativität. Aber damit, so Professor Han, sei nun endgültig Schluß. Das neue Zeitalter sei das Zeitalter allumfassender Positivität. In ihrem Zeichen dürfen wir keine verbissenen Immunologen mehr sein, sondern müssen alle zu Neurologen werden.

Was heißt das? Nun, seit Erfindung der Antibiotika, sagt Han, sei die bakterielle und virale Gefahr grundsätzlich gebannt, doch überhaupt nicht gebannt sei die Gefahr, die aus dem Inneren kommt, aus uns selbst, aus unserer ganz und gar eigenen Befindlichkeit. Nicht mehr Infekte machten uns primär zu schaffen, sondern Infarkte, die aus neuronalen Erkrankungen stammen wie Depression, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Burnout-Syndrom. Es gebe keine äußeren Feinde mehr, sondern nur noch Gefahren durch ein Übermaß an Positivität, an Sucht nach persönlicher Optimierung um  jeden Preis.

Oder, in Byung-Chul Hans eigenen Worten: „Die neue Positivierung der Welt läßt neue Formen der Gewalt entstehen. Sie gehen nicht vom Anderen aus, vielmehr sind sie dem System selbst immanent. Gerade auf Grund ihrer Immanenz sprechen sie die Immunabwehr nicht mehr an. Jene neuronale Gewalt, die zu psychischen Infarkten führt, ist ein Terror der Immanenz. Dieser unterscheidet sich radikal von jenem Horror, der vom Fremden im immunologischen Sinne ausgeht. Die neue neuronale Gewalt entzieht sich jeder immunologischen Optik, denn sie ist ohne Negativität.“

Starke Diagnose zweifellos, doch was hat Prof. Han als Therapie anzubieten? Da ist die Enttäuschung groß. Er kehrt den Buddha im Lotus heraus. Es setzt Yoga zu herabgesetzten Preisen. Wir sollen uns alle, werden wir belehrt, „fahren lassen“, sollen gemeinsam das „Müdewerden“ lernen, und zwar ein Müdewerden, wie es seinerzeit Peter Handke in seinem „Versuch über die Müdigkeit“ (1992) beschrieben hat.

Es war dies, wie sich Literaturfreunde erinnern mögen, beileibe keine Sozialtherapie für den allgemeinen Hausgebrauch, vielmehr eine Art lyrisches Impromptu, wo der von der Hitze des Tages müde gewordene Dichter sich nicht einfach einem kleinen Erholungsschläfchen hingeben will, sondern es erquicklicher und belebender findet, einen Zustand der Halbwachheit zu bewahren, ein interesseloses und dennoch hochbewußtes Spiel mit dem Schlaf. Und dieses Müdigkeitsspiel soll auch andere Mitmenschen zum Müdewerden einladen, sie möglichst in das Spiel einbeziehen.

Handkes Impromptu also greift Han auf und verwandelt es geradezu in ein riesiges Epochenwort. „Müdigkeitgesellschaft“ heißt sein ambitiöses Büchlein, und er empfiehlt es uns allen Ernstes als Ratgeber für das neue Jahr und für das 21. Jahrhundert insgesamt. Als wären wir nicht schon müde genug! Pankraz erinnert an jenen großen Essay in der Zeitschrift Lettre, in dem kein geringerer als George Steiner die neuartige Müdigkeit der Völker Europas so ausführlich wie bitter beklagte. Europa sei „maßlos müde“, und dies sei der Grund für seinen kulturellen, demographischen und politischen Niedergang.

George Steiners Urteil aus dem Jahr 2008 stimmte merkwürdig überein mit dem – sehr schönen, aber ebenfalls tief melancholischen  – Ghasel des blutjungen Hugo von Hofmannsthal, der schon vor über hundert Jahren dichtete: „Ganz vergessener Völker Müdigkeiten / Kann ich nicht abtun von meinen Lidern, / Noch weghalten von der erschrockenen Seele.“ Das war ja schon Müdigkeitsgesellschaft, mitten im bakteriologischen Zeitalter und auf dem Höhepunkt des europäischen Imperialismus. Und jetzt  kommt ein junger Herr aus Südkorea und will uns ausgerechnet zur Müdigkeit überreden!

Der Fall ist kurios und rückt auch die Diagnosen Hans in ein trübes Licht. Stimmt es denn, daß es keine externen Gefahren mehr gibt und wir deshalb keine Immunologie mehr brauchen? Davon kann doch in Wahrheit keine Rede sein. Immunologie bedeutet übrigens keineswegs hysterische Bekämpfung alles Andersartigen und Fremden, fast im Gegenteil. Der Kernbestand immunologischer Strategie (siehe Schutzimpfung) besteht gerade darin, den Angegriffenen bedachtsam und maßvoll mit Elementen aus dem Arsenal des Angreifers zu infizieren – eben dadurch wird er „immun“.

Auch Hans Rede von der ausschließlichen „Positivität“ und Selbstgemachtheit solcher Krankheiten wie Depression, ADHS oder Burnout bedarf dringend der Gegenrede. Wir leben in einer Zeit zahlloser, uns von außen bedrängender Zumutungen, gegen die wir uns durchaus immunisieren müssen. Instanzen fordern von uns Aufmerksamkeit und Anteilnahme, deren Beachtung nicht nur überflüssig, sondern für den eigenen Seelenhaushalt schlicht schädlich, manchmal tödlich ist. Dagegen hilft weder hektisches Mitmachen noch gespielte Müdigkeit.

Nicht abschalten ist das Gebot, sondern auswählen und sich selber gegebenenfalls einklinken. Man braucht dabei nicht immer gleich Angst zu haben, wider Willen „vernetzt“ zu werden, zum Gefangenen eines Netzes zu werden. Nicht jeder komplexe Zusammenhang ist gleich ein Netz. Und auf komplexe Zusammenhänge kommt es nun einmal an, natürlich auch im neuen Jahr 2011.

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