© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Herzenskälte darf nicht das letzte Wort bleiben
Einsam auf weiter Flur: Erika Steinbachs „Macht der Erinnerung“ verbindet Persönliches mit Politischem
Thorsten Hinz

Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV) und CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach ist die meistgeschmähte deutsche Politikerin. Das gehässigste Argument lautet, daß die 1943 im westpreußischen Rahmel geborene Tochter eines dorthin abkommandierten Feldwebels ja gar keine echte Vertriebene sei. Immerhin kann sie auf einen schlesischen Großvater verweisen, doch das ist nicht der Grund für ihr Engagement.

Im Vorwort ihres Buches „Die Macht der Erinnerung“ schildert sie ihr spätes Initialerlebnis, das Zusammentreffen mit einer alten Dame, die sie auf einer Veranstaltung in Frankfurt am Main ansprach: Sie, Steinbach, beschäftige sich so viel mit jüdischen Schicksalen, aber es sei doch auch wichtig, sich um die Leiden der deutschen Vertriebenen zu kümmern.

„Diese alte Dame hatte bei einem Vertriebenen, einem jungen Journalisten, zum ersten Mal in ihrem Leben offenbart, was ihr alles widerfahren war: Sie ist vielfach über Tage hinweg immer wieder brutal vergewaltigt worden, keines ihrer vier Kinder hat überlebt, drei wurden ermordet, eines ist verhungert, und ihr Mann ist im Krieg gefallen.“ Die Antwort des Journalisten lautete, „daß es ihr doch nicht geschadet habe, denn sie sei ja trotzdem über 80 Jahre alt geworden“. Frau Steinbach erkannte in dieser Reaktion eine schockierende „Herzenskälte und Rohheit“ und wollte dafür sorgen, daß sie nicht das letzte Wort blieben.

Aus der Schilderung läßt sich auch Steinbachs Tragik als Vertriebenenpräsidentin ablesen, die an die Einsichtsfähigkeit und den guten Willen der Gegenseite und an die staatlichen Institutionen glaubt. Die inneren Beschädigungen aber, die der junge Mann so ungeniert nach außen kehrte, waren und sind ein überindividuelles Problem, dem die bloße „Macht der Erinnerung“ längst nicht mehr beikommt. Der Journalist verkörpert den bundesdeutschen Staatsmenschen, der die politische Zweckrationalität, die ihn geformt hatte, gegenüber der alten Frau gnadenlos exekutierte. Man kann sich gut vorstellen, daß er inzwischen eine hohe Position in einer staatstragenden Zeitung oder Rundfunkanstalt besetzt.

Steinbachs Buch ist eine Collage aus persönlichen Erinnerungen, historischen Reminiszenzen, politischen Bekenntnissen und Szenen aus dem Politikbetrieb. Die Bemühungen der Autorin für ein Zentrum gegen Vertreibungen stehen im Mittelpunkt. Als aktive Politikerin kann sie sich keine letzte Offenheit gestatten, trotzdem wird ihre fortschreitende Desillusionierung erkennbar. Sie zitiert den tschechischen Historiker Bohumil Dolezal, der es „bedauerlich“ findet, daß sich die „deutschen Politiker, Intellektuellen und Journalisten faktisch auf die Seite derer stellen, die die Geschichte verfälschen, die Verantwortung leugnen und die Freiheit unterdrücken wollen“. Wohl wahr! Ihre Namen und politischen Profile – Steinbach führt unter anderem Joschka Fischer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Markus Meckel, Angelika Schwall-Düren, Wolfgang Thierse auf – sind völlig austauschbar, denn es sind nur weitere Synonyme für den erwähnten Staatsmenschen.

Ohne Angela Merkel hätte es das Gesetz über die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht gegeben, schreibt sie. Das mag sein. Doch die Kanzlerin spielte mit gezinkten Karten. Im März 2009 machten Agenturmeldungen die Runde, Merkel hätte der polnischen Regierung zugesichert, daß Frau Steinbach keinesfalls in den Stiftungsrat einziehen würde. Trotz mehrmaliger Nachfrage auf der Bundespressekonferenz wollte der Regierungssprecher sich zu keinem klaren Dementi durchringen. Frau Steinbach druckt den Wortlaut des Frage-Antwort-Spiels kommentarlos ab.

Das Veto des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle, der sich inzwischen mit den Insignien des Außenministers schmückte, traf Frau Steinbach aus heiterem Himmel. Schließlich hatte Westerwelle die feindselige Haltung der rot-grünen Bundesregierung gegenüber den Vertriebenen heftig kritisiert. Deutsche Politiker, meinte er, hätten bei den Nachbarn um Verständnis für deren Belange zu werben. Kaum im Amt, setzte er den unseligen Kurs Joschka Fischers fort und erhob den Verzicht Steinbachs zum Anwendungsfall deutscher Staatsräson. Erklären kann Frau Steinbach sich diese Kehrtwende nicht, sie vermutet „Wirtschafts- und Energieinteressen“ dahinter.

Überzeugend klingt das nicht, denn die Wirtschaftsinteressen der Polen und Tschechen an Deutschland sind größer als umgekehrt. Man darf vermuten, daß der als „Leichtmatrose“ verlachte und außenpolitisch unerfahrene Westerwelle ein Thema gesucht hat, mit dem er sich gefahrlos profilieren konnte. Die taktisch versierte Kanzlerin sorgte dann dafür, daß er sich als ihr nützlicher Idiot betätigte. Es ist nicht die Art von Frau Steinbach, solche und noch peinlichere Überlegungen und Gerüchte zu erörtern. Vielleicht bringen uns die Veröffentlichungen von Wikileaks demnächst Aufschluß.

Ein überproportional langer „Anhang“ nimmt fast die Hälfte des Buches ein. Er enthält Presseartikel, Dokumentationen und Reden. Das Buch ist dem 2005 verstorbenen SPD-Politiker Peter Glotz gewidmet, Frau Steinbachs wichtigstem Unterstützer für das Vertriebenenzentrum. Seit seinem Tod steht sie politisch einsam auf weiter Flur.

Erika Steinbach: Die Macht der Erinnerung. Universitas, München/Wien 2010, gebunden, 258 Seiten, 22 Euro

Foto: Flüchtlingstreck aus Ostpreußen (bei Pillau), Winter 1944: Der Vertriebenen-Chefin geht es um unsere Fähigkeit, die eigenen Toten zu betrauern

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen