© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Der Tod kennt keinen Feiertag
Ein Überlebender des berüchtigten Speziallagers Ketschendorf beschreibt sein Weihnachten 1945 inmitten von Tod und Verzweiflung
Wolfgang Lehmann

Noch vor Ende des Krieges vor 65 Jahren begannen die Sowjets, auf dem von ihnen besetzten Gebiet Lager einzurichten, in die bis in das Jahr 1946 hinein wahllos Personen eingeliefert wurden. In der Sowjetischen Besatzungszone bestanden elf derartige Lager, wobei selbst die Konzentrationslager aus dem Dritten Reich wie Buchenwald und Sachsenhausen nahtlos weitergeführt wurden. Mit diesem Lagersystem als Mittel der Einschüchterung und Unterdrückung der eigenen Bevölkerung hatten die Sowjets bereits jahrzehntelange Erfahrung.

Während der Stalinisierung ihrer Besatzungszone wurden dort zeitweise bis zu 18.000 deutsche Zivilisten und Kriegsgefangene der Russischen Befreiungsarmee (ROA) ohne gerichtliches Urteil interniert. Unter den Zivilisten waren neben früheren NSDAP-Mitgliedern auch bürgerliche Oppositionelle zur sowjetischen Besatzungspolitik, darunter viele SPD-Mitglieder und mehr als 1.600 Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren, denen unterstellt worden war, als Partisanen der früheren Hitlerjugend, sogenannte Werwölfe, gegen die Besatzungsmacht kämpfen zu wollen.

In meiner Heimatgemeinde Großräschen in der Niederlausitz ging ab Sommer das Gerücht umher, alle Hitlerjugendführer kämen zur Umschulung in ein Lager. Als ich davon hörte, stellte ich mir ein paar Wochen vor (es wurden allerdings dann fast fünf Jahre). An eine Flucht vor dieser „Umschulung“ habe ich nicht gedacht, hatte ich doch nie einen Schuß auf einen Menschen abgegeben, und als 16jähriger war ich auch nicht Soldat gewesen. Am 24. Oktober 1945 wurde ich zusammen mit meinem besten Freund Ulrich Wiese von der deutschen Miliz „abgeholt“, so nannte man damals den Vorgang, und der sowjetischen Kommandantur übergeben.

Nach tagelangen Verhören mit sadistischem Foltern im GPU-Keller (so nannte man die sowjetische Geheimpolizei) in Calau preßte man mir schließlich das Geständnis ab, ich hätte mit Panzerfäusten sowjetische Lastkraftwagen beschossen. Vom sowjetischen Kriegsgericht in Cottbus wurde ich allerdings nicht verurteilt. Schließlich wurde ich im November 1945 in das Lager Ketschendorf bei Fürstenwalde eingeliefert. Es war eine Wohnsiedlung eines Industriebetriebes, aus der alle Bewohner im April 1945 von den Sowjets vertrieben worden waren. Wir Jugendlichen wurden in das Jugendhaus, ein Vierfamilienhaus, eingewiesen, in dem gegen Jahresende etwa 1.200 Jungen eingepfercht waren.

Meine erste Schlafstätte war die dritte Betonstufe von oben auf der Treppe, die im rechten Eingang rechts zum Keller führt. Erst als immer mehr Jungen starben, konnte ich in den Keller nachrücken. Dort schliefen wir auf dem Betonboden und auf einer Holzpritsche darüber. Bettwäsche oder wenigstens eine Decke gab es nicht. Wegen der Enge lagen wir geschichtet; alle auf einer Seite mit leicht angezogenen Beinen. Wenn es jemand vor Schmerzen nicht mehr aushalten konnte, weil oftmals die Haut über den Beckenknochen weggescheuert war, mußten sich alle auf die andere Seite drehen. Die im Sommer Verhafteten hatten nur eine kurze Hose und ein kurzärmliges Hemd, so daß bei ihnen fast keine Polsterung vorhanden war.

Die Jüngsten waren übrigens zwölf Jahre alt. Die Ernährung (eigentlich kann man das, was wir bekamen, gar nicht so nennen) war so dürftig, daß in kürzester Zeit am ganzen Körper Geschwüre und Ausschläge auftraten, die, wenn überhaupt, nur mit Chlorwasser behandelt wurden. Einmal am Tag durften wir draußen auf einem Platz eine Stunde lang umhergehen. Sonst waren wir im Haus eingesperrt und durften nichts machen. Dieser Zwang zur Untätigkeit war für mich am schlimmsten.

Wegen der Überbelegung waren die Toiletten im Hause längst unbrauchbar geworden. Für die Notdurft war abseits der Häuser ein „Donnerbalken“ geschaffen worden. Den durften wir allerdings nur in einer Gruppe von sieben Personen in Begleitung eines Postens aufsuchen. Wegen der unhygienischen Verhältnisse waren Durchfallerkrankungen häufig, so daß zeitweise starke Verunreinigungen im Hause auftraten. All dies zermürbte uns langsam immer mehr. Kranke wurden erst in das Lagerlazarett eingeliefert, wenn ihr Tod unmittelbar bevorstand. Dennoch kam es immer wieder vor, daß zwischen uns in der Nacht ein Kamerad verstarb. Der wurde am Morgen vor die Tür gelegt, wo ihn das Leichenkommando einsammelte, das täglich einen Ackeranhänger voll nackter Leichname aus dem Lager in das sogenannte „Wäldchen“ fuhr, wo sie würdelos in große Massengräber geworfen und mit Kalk überstreut wurden. Am folgenden Tag kam die nächste Schicht darüber.

Unter diesen Umständen sah ich dem ersten Weihnachtsfest in der Gefangenschaft – dem noch vier weitere folgen sollten – mit gemischten Gefühlen entgegen. Ich kann mich nicht erinnern, daß in unserem Keller am Heiligabend irgend jemand etwas Weihnachtliches gesagt hätte. „O, du fröhliche“ zu singen, wäre in unserer Situation auch der reinste Hohn gewesen. Die Dunkelheit sank über unserem Keller hernieder, Licht gab es nicht. Von Ferne hörten wir irgendwann die Kirchenglocken läuten. Es war die einzige Verbindung zur Außenwelt. Einige begannen leise zu weinen und nach ihrer Mama zu rufen, bis der Schlaf liebevoll die geschwächten Körper übermannte. Am nächsten Morgen zogen wir wieder zwei kalte, völlig ausgemergelte Körper von der Pritsche. Das Leichenkommando nahm sie am nächsten Morgen mit, denn der Tod kennt keinen Feiertag.

Trotzdem gab es Ausnahmen. Ein Kamerad aus meinem Ort, der auch bei mir in der Fliegerschar gewesen war, hatte sich ein Gedicht ausgedacht, das er im Gedächtnis behielt und nach seiner Entlassung 1947 niederschrieb. Schreibwerkzeuge und Papier durften wir unter Androhung schwerster Strafe nicht besitzen. Jahrzehnte später habe ich von ihm sein Gedicht erhalten, mit der strikten Anweisung, seinen Namen nicht zu nennen. So lange wirken diese traumatischen Erlebnisse nach. Allerdings haben wir den Ausdruck „Trauma“ damals noch nicht gekannt. Traumata aus unserer schrecklichen Haftzeit werden uns auch heutzutage von den Behörden und ihren „Gutachtern“ nicht zugestanden. Unsere Geschichte bleibt unbewältigt.

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Gewaltherrschaft 1989 wurden erstmals überhaupt Zahlen aus den sowjetischen Archiven über die massenhaften Inhaftierungen in der Zeit nach 1945 bekannt, bei denen allerdings die Vollständigkeit der Angaben weiter fraglich ist. Noch nicht einmal eine verläßliche Zahl der Todesopfer der Speziallager, geschweige denn des Lagers Ketschendorf, ist bis heute bekannt. Über die Opfer, die an den physischen und psychischen Nachwirkungen der Haft zugrunde gegangen sind – viele Familien sind daran zerbrochen – wurde niemals eine Forschungsarbeit angestrengt. Nicht alle Massengräber wurden bis heute geborgen. Die 4.620 bis heute nachgewiesenen Toten wurden 1952 bei Bauarbeiten für Wohnhäuser bei Ketschendorf gefunden und unter Regie des Ministeriums für Staatssicherheit auf 30 Lastwagen zum Waldfriedhof Halbe verbracht, wo die sterblichen Überreste der „Unbekannten“ anonym bestattet wurden. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge erinnert seit 2004 mit 49 Namensplatten an die 4.620 bekannten Opfer des Lagers Ketschendorf.

Die Überlebenden mußten ganze 17 Jahre nach der Wiedervereinigung warten, bis der Deutsche Bundestag sich zu einer bescheidenen Opferpension durchgerungen hatte, die auch noch als Almosen gewährt wird, da sie abhängig von anderen Einkünften ist. Im Gegensatz zu anderen Opfergruppen werden unsere Pensionen nicht an die Geldentwertung angepaßt und sind nicht vererbbar. Nach dem Artikel 3 des Grundgesetzes „sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich“, für Opfer scheint dieser Gleichheitsgrundsatz nicht zu gelten.

Foto: Inhaftierte Kinder und Jugendliche im Keller des Jugendhauses im sowjetischen „Speziallager“ im brandenburgischen Ketschendorf, Heiligabend 1945: „‘O, du fröhliche’ zu singen, wäre in unserer Situation auch der reinste Hohn gewesen. Die Dunkelheit sank über unserem Keller hernieder, Licht gab es nicht. Von Ferne hörten wir irgendwann die Kirchenglocken läuten. Es war die einzige Verbindung zur Außenwelt.“

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