© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Ein Modernisierer im Fadenkreuz
Gründungsvater westdeutscher Sozialgeschichte: Zum 100. Geburtstag Werner Conzes
Thorsten Roloff

Am 31. Dezember 1910 in Neuhaus an der Elbe geboren, währte das Leben des Historikers Werner Conze knapp 76 Jahre. Der „Gründungsvater der westdeutschen Sozialgeschichte“ brach am 28. April 1986 bei  der Morgengymnastik zusammen und starb in einem Heidelberger Krankenhaus. Damit, so sein jüngster Biograph, Jan Eike Dunkhase, hätten die „Verwerfungen des 20. Jahrhunderts“, die sein ganzes Leben bestimmten, auch über seinen Tod entschieden. Denn Conzes Kollaps rührte von einer schweren, nie ausgeheilten Kriegsverwundung her, die der Artillerieoffizier im Sommer 1944 an der Ostfront erlitt.

Von Conzes Tod trennt uns kalendarisch nur eine kurze Spanne. Dunkhases emblematische Verdichtung dieser Gelehrten-Biographie erweckt jedoch den durchaus zutreffenden Eindruck, als befänden wir uns unendlich weiter von 1986 entfernt als die damalige spätwestdeutsche Gesellschaft von Conzes wilhelminischer Kindheit. Denn bis zuletzt blieb er der unerschütterte Repräsentant jener Bildungsbürgerlichkeit, der der Sohn eines Reichsgerichtsrats und der Enkel jenes Klassischen Archäologen entstammte, dem Berlin „seinen“ Pergamon-Altar verdankt. 

Der fünffache Vater Werner Conze wäre gewiß nicht auf die Idee gekommen, die traditionelle Familie als Basis sozialen Zusammenhalts oder die „patriarchalische“ Rollenverteilung der Geschlechter politisch zur Disposition stellen zu lassen. In der Familie hatte für ihn selbst die Einübung in die Wertvorstellungen des christlich-antik fundierten Humanismus begonnen, in die durch Schule, Zugehörigkeit zur Deutsch-Akademischen Gildenschaft und im soldatischen Einsatz verfestigte Bereitschaft, der Gemeinschaft zu dienen. Als deren ideale, in der modernen, „globalisierten“ Welt „unrevidierbare“ Ausprägung verstand er auch nach der deutschen Katastrophe von 1945 die Nation. Allerdings in „geläuterter“, tendenziell instabilerer Variante: nicht mehr als homogene Abstammungs-, sondern als Bekenntnisgemeinschaft.

Antisemitismus-Vorwürfe sollen Conze diskreditieren

Die kurz vor seinem Tod in Mode gekommene Rede von der „Erfindung der Nation“ wies er gleichwohl souverän in die Schranken: Es könne nichts „erfunden“ werden, „was nicht in irgend-einer Weise als Gegebenheit vorhanden ist“. Daher betrachtete er es auch gegen den aufkommenden „Negativnationalismus“ der Bonner Republik als Aufgabe des Historikers, die Wunde der geteilten Nation offenzuhalten. Dieses geschichtspolitische Engagement für die Wiedervereinigung erklärt sein Biograph als Nachhall eines bis 1945 „volksgemeinschaftlich“ fixierten Weltbildes, das, so Dunkhase, in der Kontinuität eines tief empfundenen „inneren Verlangens nach makrosozialer Bindung“ stehe, das man „gemeinhin als Nationalgefühl bezeichnet“ und aus dem sich Conzes „Solidaritätsgefühl“ mit den Mitteldeutschen in der DDR gespeist habe.

Um 1980 wehte dem derart an Familie, Nation und Abendland festhaltenden „Doyen der westdeutschen Geschichtswissenschaft“, der seit 1950, als „gelernter“ Agrarhistoriker, mit seiner Hinwendung zur Sozialgeschichte der „industriellen Welt“ und zur Geschichte der Arbeiterbewegung noch heute als bahnbrechender „Modernisierer“ einer traditionell politikgeschichtlichen, auf „Haupt- und Staatsaktionen“ konzentrierten Historiographie gilt, ein Wind entgegen, der nicht mehr viel übriggelassen hat von seinen Werten. Symptomatisch erscheint bei Dunkhase die Konfrontation des Heidelberger Ordinarius mit den „rebellierenden“ Studenten während der tumultösen Krawalle seit 1968. Unter ihnen „Joscha“ Schmierer, der mit „Aktionen“ gegen Conze seinen berufsrevolutionären langen Marsch durch die Institutionen antrat, der für diesen Apologeten kambodschanischer Massenmörder unter dem Patronat seines Gesinnungsgenossen „Joschka“ Fischer schließlich im Planungsstab des Auswärtigen Amtes endete.

Solche Schrittmacher der „anderen Republik“ , der Gegenwelt zur nationalstaatlichen Polis der Generation Conzes, wußten das erprobte Mittel, Nation und Nationalsozialismus zu identifizieren, virtuos einzusetzen. Heidelberger Studenten denunzierten den unbequemen, der „Liberalisierung, Westernisierung und“ – man höre und staune! – „Zivilisierung“ der BRD-Gesellschaft entgegenstehenden Gelehrten mit Zitaten aus seiner Geschichte der ostpreußischen „Elch-Division“ (1953) und aus vorgeblich „antisemitisch gefärbten Texten“  des Assistenten an der Königsberger Albertus-Universität.

Skandalprofis wie Götz Aly und andere „Enthüller“ seines Schlages, auf die sich Conzes Urteil über DDR-„Kollegen“ („Das sind doch gar keine Historiker, sondern nur politische Agitatoren“) mühelos ausdehnen läßt, knüpften seit 1990 an solche Kampagnen an, um ihn zusammen mit den anderen „Königsbergern“ Hans Rothfels, Theodor Schieder und Theodor Oberländer, mit Otto Brunner (Wien), Hermann Aubin (Breslau) und weiteren „Ostforschern“ als „Vordenker der Vernichtung“ zu ächten. Nach Dunkhases Analyse der endlos repetierten „Stellen“ jener Texte, in denen Conze zwischen 1933 und 1940 die Geschichte der Agrarverfassungen Litauens, Weißrußlands und des damals polnischen „Wilna-Gebietes“ thematisierte, und in denen von „Übervölkerung“, „Weltjudentum“, „jüdische Sache“, „Ver- und Entjudung“ die Rede ist, bleibt von den Anklagen wenig übrig. Obwohl auch der hier hermeneutisch sichtlich überforderte Dunkhase, auf dem Schutzumschlag als „Redakteur und Übersetzer an der Botschaft des Staates Israel in Berlin“ vorgestellt, die Scheuklappen des ahistorischen Moralpredigers nie ablegt und vor allem mit Conzes „Versagen“ nach 1945, seinem „Ausweichen vor dem Holocaust“, hart ins Gericht geht, will er in dessen Vokabular während der NS-Zeit nichts weiter erkennen als den üblichen „kulturellen Code“ ubiquitärer Judenfeindschaft.  

Ob damit pünktlich zum 100. Geburtstag Werner Conzes ein Schlußstrich gezogen und fortan „zeitgeistorientierten Jungakademikern“ (Dunkhase) der Weg verbaut ist, auf dem Terrain der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts die karrierefördernde Keule „Antisemitismus“ zu schwingen, scheint jedoch fraglich.

 

Werner Conze: Der Historiker wurde 1910 geboren und 1934 an der Universität Königsberg bei Hans Rothfels promoviert. Nach Kriegsdienst und Vertreibung aus Königsberg lehrte er in Göttingen, Münster und seit 1957 Heidelberg, wo er 1969/70 auch Rektor war. Er veröffentlichte das Standardwerk „Geschichtliche Grundbegriffe“ und das „Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland“. Kurz vor seinem Tod 1986 begründete er die zehnbändige Reihe „Geschichte der Deutschen im Osten Europas“.

Jan Eike Dunkhase: Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010, gebunden, 378 Seiten,           39,90 Euro

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