© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Auf der Suche nach verlorenen Momenten
Die Uhren werden immer genauer – doch die Zeit bleibt selbst Physikern weiterhin ein Rätsel
Michael Manns

Wenn Sie zur Jahreswende mit der Familie anstoßen wollen, werden Sie genau auf die Uhr gucken. Die entscheidende Sekunde wollen Sie ja nicht versäumen. Mehr oder weniger wird Ihnen schmerzlich bewußt, wie die Zeit vergeht, wie sie immer schneller fließt. Den magischen Moment des Jetzt – Sie können ihn nicht festhalten; er rinnt unbeirrt durch unser Leben. Eben ist er in der Zukunft, ein Noch-Nicht, dann ein viel zu kurzes aufblitzendes Jetzt und schon in der Vergangenheit, ein Nicht-Mehr.

Der römische Dichter Plautus beklagte schon vor 2.200 Jahren, daß Uhren unnötige Hektik hervorriefen: „Die Götter mögen den Mann verwünschen, der als erster herausfand, wie sich Stunden unterscheiden lassen.“ Rom sei voll von diesen Sonnenuhren, die erbaut seien, „um meine Tage in kleine Fetzen zu zerhacken“. Seine Klage ist heute noch aktuell. Die heutigen Zeitmesser schneiden immer präziser ins Fleisch der Zeit, Hundertstel, Tausendstel sind nichts Ungewöhnliches. Die modernsten Atomuhren zeigen heute eine Abweichung von nur wenigen Sekunden in 300 Millionen Jahren. Am US-Eichinstitut NIST war man damit nicht zufrieden und stellte einen Weltrekord in der Zeitmessung auf: Auf wenige Attosekunden (10-18 Sekunden) genau tickte die neue Aluminium-Ionenenuhr. Das ist wie wenn man den Abstand der Erde zur Sonne (etwa 150 Millionen Kilometer) auf ein Zehntel des Durchmessers eines Haares bestimmen könnte. In Deutschland liefert die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig die Atomzeit für den Zeitsignalsender DCF77. Der Langwellensender in Mainflingen bei Aschaffenburg versorgt Funkuhren im Umkreis von 2.000 Kilometern (www.ptb.de/de/zeit/uhrzeit.html).

Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft sind eine faszinierende und mysteriöse Dreiheit, verbunden durch den Zeit-Fluß. Schon die Philosophen der Antike grübelten darüber. Die Physiker haben sich in den letzten Jahren wieder stärker dem Thema gewidmet und sind skeptisch geworden: Ist die Zeit real? Oder nur eine Illusion? Und was „fließt“ da? Und wie schnell? Eine Sekunde pro Sekunde? Und was wäre, wenn sie doppelt so schnell fließt? Oder gar nicht mehr? Die Philosophiezeitschrift Der blaue Reiter druckte, um auf Zeit-Paradoxien aufmerksam zu machen, vor einigen Jahren den provokativen Hinweis: „Morgen um 10.10 Uhr wird die Zeit abgeschaltet. Wir bitten Sie, das bei Ihren Planungen für den Tagesablauf zu berücksichtigen.“

Die klassische Zeitdefinition formulierte Isaac Newton 1687: „Die absolute Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer eigenen Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand.“ Sein Zeitbegriff bedeutet, daß die Zeit die gleiche ist für jedermann, wo auch immer. Auf der Erde, in unserer Milchstraße oder auf dem Stern Alpha Centauri. Es wird suggeriert, als würde eine große Uhr im Universum hängen, die verbindlich die universale Zeit anzeigt. Und dann ist da noch ein Riesenbehälter, in dem die Sterne sind.

Die Gravitation verzerrt die Zeit

Dreidimensionale Bühne und Zentraluhr – das ist ein Irrtum. Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Physiker, mit dieser Vorstellung aufzuräumen. Albert Einstein schaffte in seiner speziellen Relativitätstheorie die absolute Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse ab. Sie hängt davon ab, wie schnell man sich bewegt. Einstein fügte auch Zeit und Raum zusammen – zur Raumzeit.

Noch ärger kam es dann 1915 mit seiner allgemeinen Relativitätstheorie. Die Feldgleichungen stellen einen universalen Zusammenhang zwischen Raumzeit, Energie und Masse sowie Gravitation her. Die Folge: Die Gravitation verzerrt die Zeit derart, daß eine Sekunde hier nicht mehr unbedingt dasselbe bedeutet wie eine Sekunde an einem anderen Ort – Theorien, die sich in der Umgangssprache nicht mehr exakt beschreiben lassen.

Die Fragen um Zeit (und Raum) sind keineswegs gelöst. Physiker vermuten, daß es ein fundamentales Prinzip geben muß, eine tiefere Ebene, aus der die Zeit hervorgeht. Der US-Physiker Brian Greene spricht von einem Quantenschaum, in dem es „Splitter und Scherben von Raum und Zeit“ gibt. Eine verrückte Vorstellung, aber man sollte nicht vergessen, daß die einst „unteilbaren“ Atome auch in Protonen, Neutronen oder Elektronen und dann noch kleinere Teilchen zerlegt wurden.

In der Welt, in der sich der Mensch bewegt (überschaubar in drei Dimensionen geordnet und mit Geschwindigkeiten, die nur ein Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit sind), wird man nicht auf diese bizarren Verhältnisse stoßen. Hier verläuft die Zeit nur in einer Richtung. Eine Tasse, die vom Tisch rutscht, fällt auf den Fußboden und zerspringt. Den umgekehrten Fall gibt es nicht.

Daß das so ist, hat der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann herausgefunden. Sein Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik (Entropiesatz) verbietet, daß die Tasse sich wie von selbst wieder zusammenfügt und auf den Tisch hüpft. Diesen Effekt können wir nur beobachten, wenn wir einen Film rückwärts laufen lassen. Die Zeit läuft nicht rückwärts, sondern in aller Unerbittlichkeit vorwärts.

In unserer hochtourigen Welt sind wir einem Zeitdiktat ausgeliefert. Insofern ist die Zeit, auch wenn sie physikalisch eine Illusion sein mag, von gnadenloser Wahrheit. Telefonieren, Essen, Trinken, im Internet stöbern – alles möglichst zur selben Zeit. So werden wir zu „Simultanten“. Unsere Existenz wird zu einem Wettlauf gegen die Zeit.

Wir haben kaum noch Zeit, über eine andere Zeit nachzudenken, jenseits aller Physik. Das Buch Kohelet des Alten Testamentes erinnert an eine andere Zeit: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben … eine Zeit zum Weinen / und eine Zeit zum Lachen, / eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz/eine Zeit zum Lieben / und eine Zeit zum Hassen, / eine Zeit für den Krieg / und eine Zeit für den Frieden.“

 

Attosekunden-Laser

Im Frühjahr 2005 schaffte der ungarische Physiker Ferenc Krausz, Direktor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik (MPQ) in Garching, einen Durchbruch bei der Erzeugung immer kürzerer Laser-Lichtblitze: Er realisierte im Labor einen Attosekunden-Laser, der etwa 10-18 Sekunden kurze Lichtblitze aussendet. Damit schuf Krausz die Grundlage dafür, Bewegungen von Elektronen im Inneren von Atomen zu fotografieren. Im Mai dieses Jahres gelang es dann den MPQ-Forschern zusammen mit Kollegen vom Max-Born-Institut (MBI) in Berlin, erstmals Elektronen in einem Wasserstoffmolekül (H2) zu beobachten. Krausz’ Rekord liegt bei Blitzen von 80 Attosekunden Dauer. Künftige Attosekunden-Experimente mit neuen Werkzeugen sollen weitere Hinweise und Vergleiche zwischen Newtonscher Mechanik und Quantenphysik liefern. Tausendmal schnellere Bilder (im Bereich von Zeptosekunden / 10-21 Sekunden) könnten künftig sogar Vorgänge im Innern von Atomen sichtbar machen. Max-Planck-Institut für Quantenoptik: www.mpq.mpg.de

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