© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/11 14. Januar 2011

Halb Teufel und halb Kind
Imperialist, Chauvinist, Deutschenhasser: Rudyard Kipling, Autor der „Dschungelbücher“ und Sänger des britischen Empire
Hans-Joachim Müllenbrock

Als er am 18. Januar 1936 in London starb, hatte der 1865 in Bombay geborene Rudyard Kipling den Zenit seiner Anerkennung längst überschritten. 1907 war ihm als erstem englischsprachigen Autor der Nobelpreis für Literatur verliehen worden.

Seinen Ruhm erwarb Kipling als Schilderer Indiens. Mit sechs Jahren nach England geschickt, um eine strenge Public-School-Ausbildung zu durchlaufen, kehrte er 1882 auf den Subkontinent zurück, wo er seinen Weg als Autor mit journalistischen Arbeiten begann.

Mit Sammlungen wie „Plain Tales from the Hills“ (1888), „Soldiers Three“ (1888) und „Life’s Handicap“ (1891) wurde Kipling zum Begründer der realistischen anglo-indischen Kurzgeschichte. Durch die meisterhafte Milieuschilderung dieser Erzählungen, die der englischen Literatur ein bislang brachliegendes Feld erschlossen, wurde das Publikum der Metropole mit den Unbilden des harten Soldaten- und Verwaltungsdienstes in einem klimatisch beschwerlichen und kulturell fremdartigen Land bekannt gemacht.

In Kiplings 1892 erschienenen  „Barrack-Room Ballads“, deren aggressive, derbe, sogar brutale Sprache auf den jungen Bertolt Brecht stilbildend wirkte, trat das rauhe Gesetz der Kolonialgesellschaft als Bewertungsmaßstab an die Stelle konventioneller viktorianischer Moralvorstellungen. Durch ihre mitreißenden Rhythmen und die Wiedergabe des literarisch aufpolierten Cockney vermittelten diese Texte die Mentalität des einfachen Soldaten. In ihrer spröden, aber liebevollen Anschaulichkeit machen sie deutlich, daß Kipling sich mit den Soldaten des Weltreichs identifiziert; so hält er beispielsweise in „Tommy“ der Heimat ihre Verachtung des gemeinen Soldaten vor.

Eine tiefe Verbundenheit mit dem Empire spricht auch aus den beiden „Jungle Books“ (1894 und 1895). Die Geschichten um das unter Wölfen aufwachsende Menschenkind Mowgli, der mit Hilfe seiner Freunde, dem Bären Baloo und dem schwarzen Panther Bagheera, den heimtückischen Tiger Shere Khan besiegt, haben, nicht zuletzt durch Verfilmungen, weltweite Verbreitung erlangt. Auch diesem Klassiker der Jugendbuchliteratur sind imperialistische, um Leitbegriffe wie Gehorsam und Autorität kreisende Wertvorstellungen eingeschrieben, denn Mowgli lernt von den realistischen Tieren das harte, aber gerechte Gesetz des Dschungels.

Um die Jahrhundertwende erreichte Kipling den Höhepunkt seiner Popularität –  H.G. Wells hat gesagt, daß der Name Kiplings damals fast ein nationales Symbol gewesen sei. Nachdem schon „A Song of the English“ (1893) die Expansion Englands in biblischer Sprache als gottgewolltes Werk gefeiert hatte, schrieb eine Gedichtsammlung wie „The Seven Seas“ (1896) seine religiös, namentlich alttestamentarisch fundierte Überzeugung von der imperialen Bestimmung der Engländer als auserwähltes Volk fort. Als dichterischer Anwalt des britischen Imperialismus vertrat der von dem Stolz auf die englische „Rasse“ durchdrungene Kipling im Sinne des zeittypischen Darwinismus biologistische Anschauungen. Auch die viktorianische Arbeitsideologie eines Carlyle mit ihrer puritanischen Disziplin integrierte er in sein imperialistisches Weltbild, etwa in „The Day’s Work“ (1898).

Am spektakulärsten artikulierte Kipling seine Überzeugung von der zivilisatorischen Mission der weißen Rasse in dem zuerst in der Times veröffentlichten Gedicht „The White Man’s Burden“ (1899), welches die berühmt-berüchtigte Charakterisierung der Kolonialvölker als „half devil and half child“ enthält. Darin ruft er die von England schon damals umworbenen Vereinigten Staaten dazu auf, gemeinsam mit dem Inselreich das große angelsächsische, als ethische Bürde auferlegte Zivilisationswerk auch ohne Aussicht auf materielle Belohnung zu vollenden.

 Die nationale Rolle Kiplings, der selbst beliebte imperialistische Autoren wie W.E. Henley, Henry Rider Haggard, John Buchan und G.A. Henty an Popularität weit übertraf, manifestierte sich auf fast sensationelle Weise in dem durchschlagenden Erfolg seiner Ballade „The Absent-Minded Beg-gar“ (1899) – der Titel soll wohl auf J.R. Seeleys vielzitiertes Wort anspielen, daß England die halbe Welt in einem Anfall von Geistesabwesenheit erobert habe. Kipling schrieb das Gedicht für den Kriegsfonds der Daily Mail, um für finanzielle Unterstützung im Burenkrieg kämpfender Soldaten zu werben. Über die Music Hall erzielte Kipling mit dieser von Sir Arthur Sullivan vertonten Ballade Massenwirkung.

Mit „Kim“ (1901), von T.S. Eliot als Kiplings größtes Buch gelobt, aber auch von Edward W. Said eher widerstrebend als Meisterwerk des Imperialismus eingestuft, verschaffte Kipling dem Empire-Gedanken auch in einem anspruchsvollen Roman Resonanz. Zwar wird der Gegensatz von Kolonisatoren und Kolonisierten durch die Inszenierung eines multikulturellen Dialogs zwischen Kim und dem frommen Lama verdeckt, doch stehen die exotischen Erkundungen des dreizehnjährigen Titelhelden noch deutlich erkennbar im Dienste seines Erziehungsauftrags. Denn so romanzenhaft Kims Mitgliedschaft im englischen Geheimdienst auch anmutet,  seine begeisterte Beteiligung an dem großen Spiel gegen die russischen Spione unterstreicht das realpolitische Substrat der abenteuerlichen Handlung.

Kiplings Empire-Rhetorik erfuhr im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine zeitgeschichtlich aufschlußreiche Wandlung. Ohne Abstriche an seiner Legitimationsbasis zu machen, gab er in seiner Lyrik dem Vertrauensschwund des lange offensiven britischen Imperialismus Ausdruck. Nachdem er bereits in seiner Hymne „Recessional“ (1897) in biblischem Demutsgestus den zungenfertigen Schmeicheleien aus Anlaß des diamantenen Kronjubiläums Königin Victorias warnend entgegengetreten war, griff er in „The Islanders“ (1902) seine bequem gewordenen Landsleute unter dem Schock des enttäuschend verlaufenden Burenkrieges mit wüsten Beschimpfungen an. Das in dem Gedicht angeschlagene Dekadenzmotiv und die darin ebenfalls artikulierte Invasionsfurcht beeinflußten seit geraumer Zeit das Denken konservativer Kreise. Kipling setzte seine in kompensatorischer Absicht vorgetragene schneidende Kritik an der inneren Verfassung seines Landes in „The City of Brass“ (1909) fort. In den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges machte sich der politisch sehr gut vernetzte Kipling zum Sprachrohr des rechten Flügels der Konservativen Partei.

Seinen ethischen Tiefpunkt erlebte Kipling, den Orwell einen „vulgären Flaggenschwenker“ nannte, nach Kriegsausbruch. Sogar aus der einen Zivilisationsbruch markierenden zügellosen englischen Kriegspropaganda stechen seine Beiträge noch unrühmlich hervor. Kipling, der schon vorher aus seiner Abneigung gegen die als Hunnen verunglimpften Deutschen kein Hehl gemacht hatte, ließ jetzt alle Dämme brechen. So diffamierte er die deutschen Feinde als Tiere und wollte nur noch zwischen Menschen und Deutschen unterschieden wissen! Kiplings pathologische Züge annehmender Deutschenhaß spiegelte sich wie durch ein Brennglas in der makabren Kurzgeschichte „Mary Postgate“ (1915). In ihr wird geschildert, wie die Titelfigur es unterläßt, einem deutschen Piloten Beistand zu leisten, der im Garten eines Hauses abgestürzt ist und in hilfloser Lage in einem Baum hängt. In einer Epiphanie des Hasses weidet sich die Frau am qualvollen Sterben des deutschen Piloten. Kiplings imperialistischer Code hatte sich zu einem chauvinistischen Exzeß verengt.

Nach dem Ersten Weltkrieg ist das Ansehen Kiplings, dessen literarkritische Wertschätzung hinter seiner zeitweiligen Popularität beim allgemeinen Publikum deutlich zurückblieb, rapide gesunken. Eine breitere Aktualisierung  Kiplings erscheint unter postkolonialen Vorzeichen nicht in Sicht, obwohl Möglichkeiten sachlicher Rehabilitierung bei näherer Prüfung seines gesellschaftlichen Grundkonzepts unter Anknüpfung an die von Soziologen wie Durkheim, Weber und Pareto erarbeiteten Erkenntnisse zu sozialem Zusammenhalt nicht fehlen. Aber Kiplings wenig einnehmendes Persönlichkeitsprofil steht einer erneuten Anerkennung entgegen. Seine offensichtliche Freude an rücksichtsloser Härte, sein Gefallen an Grausamkeit, sein unbändiger Haß auf seine Feinde und seine Bewunderung alles Militärischen sind dem heutigen Zeitgeist allzu fremd geworden. In den Vereinigten Staaten sind die Erzählungen Kiplings, die auf Kinder meist einen nachhaltigen Eindruck machen, als Schullektüre bereits politischer Korrektheit zum Opfer gefallen.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Edward Morgan Forster (JF 46/10).

Foto: Findelkind Mogli mit Balu und dem Panther Baghira aus dem Zeichentrickfilm „Das Dschungelbuch“ von Walt Disney (1967): Klassiker

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