© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/11 14. Januar 2011

Die Geißel des Jahrhunderts
Henning Ottmann analysiert in seiner vielbändigen Ideengeschichte zuletzt den Totalitarismus
Wolfgang Saur

Ws war das 20. Jahrhundert?“ fragt der Münchner Philosoph Henning Ottmann. War es das Jahrhundert der Zweckrationalität, der Oktoberrevolution, der Auflösung politischer Fronten oder der Lagerbildung, des Ausnahmezustands, der Geburt einer neuen Weltmacht China gar? All diese Motive finden sich in seiner glänzenden Monographie teils weitläufig und überaus differenziert behandelt. Im Zentrum freilich steht der „Totalitarismus und seine Überwindung“, bestimmte doch er die erste Jahrhunderthälfte. Ihr nun widmet sich der achte Band (Band 4/ Teilband 1) von Ottmanns gewaltiger Ideengeschichte.

Er startet mit dem intellektuellen Kosmos Max Webers und schließt mit den „Neoklassikern“, Hannah Arendt, Eric Voegelin und Leo Strauss. Die Abschnitte zu Weber bilden einen ersten Höhepunkt: Sie erörtern nicht nur gründlich das Werturteilspostulat, die Herrschaftssoziologie, Webers postdemokratischen Politikbegriff, die Hauptmotive seiner Religionssoziologie, die Rationalisierungsthese und breitgefächerte Rezeption, sondern rechnen auch sehr kritisch mit den Defiziten des Kultautors ab. Erudition und souveränes Urteil fundieren Ottmanns facettenreichen Text allenthalben.

Darüber hinaus ergänzen die ausgedehnten ästhetischen Interessen des Autors Theoriekompetenz zur faszinierenden Historiographie. Sie schlagen sich nieder in einer Auffächerung der utopischen Romanliteratur etwa oder in literarischen Einzelporträts (Gabriele d’Annunzio), der Diskussion „faschistischer“ Architektur oder der Filme Leni Riefenstahls. Eingehende Analysen sind Thomas Mann gewidmet, dem „Zauberberg“, dem „Dr. Faustus“ und zumal den „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Sie finden sich im Mittelteil über die Konservative Revolution, der Ottmann breite Beachtung schenkt: Moeller van den Bruck, Thomas Mann, Oswald Spengler; auf Ernst Jünger entfallen allein neun Kapitel. Separat wird der Staatsrechtler und politische Philosoph Carl Schmitt gewürdigt. Seine Ausstrahlung habe die „weitreichendste Wirkungsgeschichte eines politischen Denkers im 20. Jh.“ begründet – was die vielschichtige Diskussion um seinen „Begriff des Politischen“ in nuce abbildet. Deren Abriß gerät hier zu einem Glanzstück.

Auf jeder Seite verblüffen die Freimütigkeit, kritische Umsicht und Gelas-senheit, mit der Ottmann Tabuthemen und dogmatische Begriffe auflöst. Bei Faschismus und Nationalsozialismus  fällt das zumal im Schlußteil über die großen Erklärungsmodelle auf. Faschismustheorien, Sonderwegsthesen, Totalitarismustheorie, die „politischen Religionen“ und der „Faschismus als Epochenphänomen“ (Nolte) werden um und um gewendet, bis hin zum Historikerstreit 1986 und Goldhagens „neuer Kollektivschuldthese“ 1996.

Schlecht weg kommen die „Geschichtsklitterungen“ der „Sonderwegtheorie“. Von deren „trichterförmiger Geschichtsvorstellung“, die alles deutsche Leben als vermeintliche „Vorgeschichte“ aufsauge, bleibt wenig übrig. Stehe doch für sie „hinter jedem Dichter und Denker bereits ein Richter und Henker“. Die populären Klischees öffentlicher Rede werden so reihenweise dekonstruiert: Was soll der „Sonderweg“ gewesen sein?, welcher „Westen“?, „Verspätung“ – na und? Der „Respekt vor den Opfern“ deutscher Verbrechen erfordere das „Singularitätsgebot“? Aber dies errichte nur eine „Rangordnung unter den Opfern (…) Warum sollte man eine solche überhaupt entwickeln?“ Wer Kontextualisierung und Historisierung des Nationalsozialismus verhindere, leiste nur seiner „Mystifizierung“ Vorschub.

Das Rechts-Links-Schema als polemisches Deutungsprinzip wird drastisch abgewertet. Mit ihm seien die Konservativen, Revolutionäre, Sozialisten, Nationalisten im 20. Jahrhundert kaum erklärbar. Typisch dagegen die säkulare Verwirrung der Fronten. Was der kritischen Einschätzung des Totalitarismus keinen Eintrag schuldet.

Ottmann gliedert ihn in drei große Komplexe: Rußland-Lenin-Stalinismus, Faschismus und Nationalsozialismus, und „politisches Denken in China vor und nach der Revolution“. Findet er die ideologischen Brennpunkte Hitlers im darwinistischen Rassismus und dem Lebensraumgedanken, so die „drei Säulen der stalinistischen Hölle“ in der Zwangskollektivierung und dem Tod der Kulaken, der großen Säuberung mit ihren Schauprozessen und natürlich dem Gulag-System.

Der Stalinismus erscheint zuletzt als gescheitertes utopisches Projekt einer „phantastische Züge annehmenden Modernisierung, beladen mit den hybriden Ansprüchen der modernen Subjektivität“. Auch hier sind Ottmanns spezifische Sichten eingeflossen. Zunächst schöpft er stets das Potential der Forschung nach allen Seiten aus. Das funktioniert interpretatorisch gleich einer Vielzahl von Filtern, die der kritischen Optik zuarbeiten. Der Autor erprobt sie, übernimmt Erklärungsmomente und ordnet sie seiner Tiefenanalyse ein. Insofern ist seine Hermeneutik integralistisch.

Gleichwohl geht seine Wahrnehmung in den Perspektiven der anderen niemals auf. Denn trotz seines ungeheuren Wissensreichtums hat sich Ottmann wache Neugier und ursprüngliches Staunen bewahrt. Lebendige Erkenntnis setzt die seit je voraus. Die bislang erschienenen Bände kombinieren Lesetext und chronikal-bibliographisches Handbuch aufs glücklichste. Der letze Teil nun (4/2) wird das politische Denken, das in Griechenland begann, mit der Gegenwart zusammenschließen.

Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens; Band 4 /1: Das 20. Jahrhundert. Der Totalitarismus und seine Überwindung. Verlag Metzler, Stuttgart 2010, 540 Seiten, broschiert, 19,95 Euro

Foto: Wolfgang Mattheuer, Der Jahrhundertschritt, Öl auf Hartfaser 1987: Wer Kontextualisierung und Historisierung des Nationalsozialismus verhindert, leistet nur seiner „Mystifizierung“ Vorschub

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