© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/11 21. Januar 2011

CD: Minnesang
Klingender Stammbaum
Sebastian Hennig

Auf ihrer Reise durch die Welt des mittelalterlichen Gesanges, die von den Troubadours über die Lieder der Kreuzfahrer führte, ist das finnische Ensemble „Oliphant“ nun bei den deutschen Minnesängern eingekehrt. Ihrem Konzertprogramm entspricht eine CD mit dem Titel „Herz, Prich!“. Sopranistin und Mezzosopranistin werden umspielt von zwei Instrumentalisten. Dichtung ist hier noch Sang, und die Musik kommt aus Menschenkehlen. Die Zimbeln, Pfeifen- und Geigentöne sind das zurückhaltende Element, auf dem sich die Stimmen ungehindert entfalten können. Es handelt sich nicht nur um eine Blütenlese des Minnesangs, sondern um dessen klingenden Stammbaum.

Drei Formen verwendeten die Sänger: Lied, Leich und Spruch. Das Lied war bereits das, was wir heute noch darunter verstehen. Der Leich besteht aus unregelmäßigen Strophen und kann sowohl als Tanzlied wie auch als geistlicher Gesang auftreten. Der Spruch enthält Eigenschaften einer gemessenen, liturgischen Rezitation. Vom zwölften bis zum sechzehnten Jahrhundert erstreckt sich der Zeitraum, dem die Beispiele entnommen sind. Das jüngste Lied eröffnet die Abfolge. Es ist Hans Sachsens „Wacht auff ir werden Christen“. Richard Wagner verschaffte ihm als „Morgenweise“ in seinen „Meistersingern“ einen wirkungsvollen Nachruhm.

Den Höhepunkt ausgeglichener Vollendung der mittelalterlichen Sangeskunst bezeichnen die Lieder aus der Zeit der Stauferkaiser: Walther von der Vogelweides „Under der linden an der heide da unser zweier bette was... tandaradei“ und Neidhart von Reuentals „Blozen wir den anger ligen sahen“. Drossel, Nachtigall, Rose und Lindenbaum duften und zwitschern überzeitlich und überwirklich mit den fernen Liedern an unser Ohr.

Das umfassende Sängertum verzweigte sich in der Folge in autonome Kunstrichtungen. Die gravitätische Förmlichkeit der galanten Lieder scheidet sich einerseits in den Übermut eines Oswald von Wolkenstein und andererseits in die schwierige Metaphorik des Heinrich von Meißen, genannt „Frauenlob“. Während der Tiroler in leidenschaftlicher Selbstbezogenheit die Herzeleid- und Weltschmerzlyrik späterer Tage ankündigt, wird Frauenlob zum Präzeptor der bürgerlichen Meistersingerbewegung. Auf einer bekannten zeitgenössischen Miniatur thront er über den Meistern als ihr König und Dirigent gegenüber dem Wappen mit der Heiligen Jungfrau. In ihren Versen lassen die Meistersinger ihn immer wieder gegen seine Antipoden antreten.

Die unbefangenen Vorgänger sangen von „wip“ und meinten weibliches Wesen frisch wie die Frühlingsluft, irdisch und ausgelassen und doch keusch und schlicht. Heinrichs „vrowe“ ist dagegen immer die christliche Gottesmutter, nach der die großen Frauenkirchen in Dresden, München und Paris benannt sind. Er macht schwierige Unterscheidungen zwischen „maget“(mädchen), „wip“ und „vrowe“. Nur die letzte erfüllt und umfaßt ihm alles das, was die anderen beiden ankündigen.

Nach Aufenthalten in Kärnten, Böhmen, Pommern und Dänemark starb Heinrich von Meißen 1318 in Mainz. Die Legende berichtet, daß sein Leichnam von einem Zug Frauen zur letzten Ruhe im Dom geleitet wurde.

Oliphant, Herz, Prich! Alba (Klassik Center Kassel), 2010 www.classicdisc.de

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