© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/11 21. Januar 2011

Der Jahrhunderttenor
Eine Welt für sich: Der einzigartige spanische Opernsänger Plácido Domingo wird siebzig
Jens Knorr

Er ist ein Phänomen, dieser José Plácido Domingo Embil. Seit fünf Jahrzehnten steht er auf der Bühne, seltener im Konzertsaal, oft im Tonstudio, immer in der Öffentlichkeit.

Der Beginn seiner internationalen Karriere wird gewöhnlich von Domingos Auftritt in der Titelpartie von Alberto Ginasteras „Don Rodrigo“ datiert, die er am 22. Februar 1966, dem Eröffnungsabend der New York City Opera im neuen Domizil, dem Lincoln Center, sang. Als er vier Monate vorher sein Debüt im alten Haus gab, als Pinkerton in „Madama Butterfly“, da hatte der junge Sänger bereits ein Bühnenpensum bewältigt wie es andere Sänger in ihrer ganzen Karriere nicht bewältigen.

Sein Bühnendebüt hatte er am 17. Mai 1959 in Mexiko-Stadt als Borsa in „Rigoletto“ gegeben und, noch während seines Gesangsstudiums, viele kleinere Rollen an diesem Haus gesungen, als erste Hauptrolle war Alfredo am 19. Oktober 1961 in Monterrey gefolgt, Gastrollen in den USA hatten sich angeschlossen.

Rolf Liebermann, zu der Zeit Intendant der Hamburgischen Staatsoper, hatte im Publikum der Ginastera-Premiere gesessen und lud den Sänger ein. Am 8. Januar 1967 sang Domingo Cavaradossi in Hamburg, im Mai 1967 Verdis Don Carlos an der Wiener Staatsoper und Riccardo in „Un Ballo in maschera“ an der Deutschen Oper Berlin, im Mai 1969 die Tenorpartie in Verdis Messa da Requiem unter Giulini in der Londoner Royal Festival Hall, Ende September 1968 Maurizio in Cileas „Adriana Lecouvreur“ an der Metropolitan Opera New York, im Sommer 1969 Calaf in der Arena von Verona, im Dezember 1969 Ernani an der Mailänder Scala.

In den Achtzigern war Domingo bereits eine Größe im Operngeschäft, doch Anfang der Neunziger kam es zu einem folgenreichen Auftritt, folgenreich sowohl für den Grad seiner Bekanntheit als auch für den Klassik-Musikbetrieb selbst: Anläßlich der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 traten drei Tenöre erstmals gemeinsam auf. Das Konzert in den römischen Caracalla-Thermen sahen 6.000 Besucher und etwa eine Milliarde Fernsehzuschauer. Zubin Mehta dirigierte ein Riesenorchester von rund 200 Musikern.

Von den dreien, die fortan unter dem Markennamen „Die drei Tenöre“ durch die Neunziger tingelten, war Luciano Pavarotti der populärere, ist Domingo der bedeutendere, und von José Carreras wollen wir schweigen. Die Bezugsfigur der beiden Konkurrenten war selbstverständlich der Neapolitaner Enrico Caruso (1873–1921), und sie wetteiferten darum und gegeneinander, Carusos Rekorde ein- und neue aufzustellen.

Plácido Domingo wurde am 21. Januar 1941 in einem Vorort von Madrid geboren. Seine Eltern waren bekannte Sänger der Zarzuela, der spanischen Variante der Operette. Seine Kindheit verbrachte Plácido jun. ab 1949 in Mexiko. In der Zarzuela-Truppe seiner Eltern übernahm er kleinere Rollen und begleitete später Sänger am Klavier. Am Nationalen Konservatorium in Mexiko-Stadt schrieb er sich nicht für das Fach Gesang ein, sondern für die Fächer Klavier und Dirigieren. Als seine Stimme entdeckt wurde, wechselte er und studierte bei Carlo Morelli, dem Bruder des Tenors Renato Zanelli. An der mexikanischen Nationaloper sang Domingo als Bariton vor und wurde als Tenor verpflichtet. Von 1962 bis 1965 war er drei Spielzeiten an der Hebräischen Nationaloper Tel Aviv engagiert, zusammen mit seiner 1935 geborenen Frau Marta Ornelas, einer Sopranistin. Hier standen sie in zwölf Rollen in 280 Aufführungen auf der Bühne. Und hier begann er sich seine legendäre Technik zu erarbeiten, die ihn zu einem Lebenswerk befähigt, das immer noch nicht abgeschlossen ist.

Ein Alterungsprozeß ist seiner Stimme kaum anzumerken, ja, nach dem Urteil maßgeblicher Kritiker hat sie im Verlauf der letzten zwei Dekaden des vorigen Jahrhunderts noch an Festigkeit und Konzentration gewonnen. Dabei hat sich der hohe Bariton die Tenorlage hart erarbeiten müssen. Die Anstrengung hoher Töne war seiner Stimme immer anzuhören. In letzter Zeit, da sie wieder in ihre natürliche baritonale Lage absinkt, ist Domingo in das Bariton-Fach zurückgekehrt und hat seinem umfangreichen Repertoire die Partien des Simone Boccanegra und des Rigoletto hinzugefügt.

Das Repertoire umfaßt 130 Rollen, eine Zahl, die von keinem anderen Tenor je erreicht worden ist, auch von Caruso nicht, vornehmlich des italienischen und französischen, aber auch des deutschen, unter fast vollständiger Ausklammerung des barocken und zeitgenössischen Repertoires. Über 3.000 Aufführungen hat er gesungen, einige Rollen, Domingo nennt sie „Hunderterrollen“, hundert, einige über zweihundert Mal, Turridu und Canio, Rodolfo, Cavaradossi, Otello und Don José zählen dazu.

Mit mehr als hundert Gesamtaufnahmen, mehr als fünfzig Musikfilmen, vier Opernverfilmungen, einer unübersehbaren Zahl von Sammelaufnahmen ist er der wohl bestdokumentierte Tenor der Tonträgergeschichte. Als Canio in „Der Bajazzo“ eröffnete er am 27. September 1999 die Bühnensaison der Metropolitan Opera zum 18. Mal und hatte damit Caruso um eine Opening night überboten.

Seine Kritiker haben ihm seinen Allzweckstil, generalisierende Interpretationen, Einebnung der Ausdruckscharaktere auf Einheitsaffekte, indifferente Artikulation vorgeworfen. Vielleicht ist das der Preis für den einzigartigen Wohlklang, den keiner wie er zu produzieren versteht, den ebenmäßigen, bronzenen, männlichen Ton, selten ein figurenspezifischer, aber immer einer, den unverkennbar nur Domingo hat!

Angesichts solcher Produkte wie der drei jungen, drei keltischen, zehn oder was sich noch so alles unter dem Label „Tenöre“ verwurstet, wird es schwieriger und schwieriger, dem Hörer den Unterschied zwischen musikalischem Rauschgifthandel und der Kunst des Tenorgesangs, zwischen Arie und Schlager, merkbar, hörbar, fühlbar werden zu lassen. Indem er die Verwertungsmaschine mit in Gang gesetzt hat und sie am Laufen hält, trägt Domingo Mitschuld daran, daß dieser fundamentale Qualitätsunterschied verwischt, künstlerische Maßstäbe ihre Geltung verlieren. Aber solange einer wie Domingo singt, so lange sind sie noch gesetzt.

Diesen Freitag wird Domingo siebzig Jahre alt – nicht seine Stimme. www.placidodomingo.com

Foto: Plácido Domingo: Seinen Geburtstag an diesem Freitag feiert er auf der Bühne des Opernhauses Teatro Real in Madrid, wo er den Orest in Christoph W. Glucks „Iphigenie auf Tauris“ singt

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