© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/11 28. Januar 2011

„Überfall am frühen Morgen“
Ohne triftigen Grund werden in Deutschland Tausenden Eltern von Staats wegen ihre Kinder geraubt. Doch kaum jemand interessiert sich für das Martyrium der Betroffenen.
Moritz Schwarz

Frau Hein, die Jugendämter in Deutschland sind Freund und Helfer der Familien.

Hein: Das ist leider häufig ein frommer Irrtum – wie ich selbst erleben mußte.

Inwiefern?

Hein: 2009 habe ich als Rechtsanwältin einen Fall übernommen, bei dem einer krebskranken Mutter, die das Jugendamt um Hilfe gebeten hatte, ihre drei Kinder auch nach der Genesung über zwei Jahre lang nicht zurückgegeben wurden. Ich hielt das damals für einen Einzelfall – etwas anderes konnte ich mir gar nicht vorstellen. Der Fall war so schrecklich, daß man gar nicht anders konnte, als ihn für ein Versehen, eine Ausnahme und einen Irrtum zu halten.

Sie sind selbst Mutter von zwei Kindern.

Hein: Und ich habe daher eine Ahnung davon, was diese Eltern durchgemacht haben. Was es heißt, wenn Kinder im Heim oder in Pflegefamilien sitzen und nach ihren Eltern weinen und keiner sie hören will.

Zum Beispiel der Fall „Bettina S.“: Nach schwerstem Ehekrach und Depressionen hat das Amt ihr beide Kinder – fünf und elf Jahre alt – weggenommen.

Hein: Weggeholt aus der Schule, beziehungsweise dem Kindergarten. Zwei Tage lang erfuhr die Mutter nicht, wo ihre Kinder sind, durfte sich nicht einmal verabschieden. Seitdem kämpft sie. Der Sohn schreibt ihr, er wolle nach Hause, „I love you, Mama“, und daß er weinen müsse. Wenn sie inzwischen die Kinder besuchen darf, muß sie sich die Tränen verkneifen, weinen dürfe sie nicht, so die Anweisung, denn das könne die Kinder in ihrer neuen Umgebung destabilisieren. So war der Fall im Fernsehen, einer der wenigen, über die einmal öffentlich berichtet wurde.

Kein Einzelfall?

Hein: Nein, ganz und gar nicht. Als ich bei meinem ersten Fall 2009 in der Lokalpresse ein Interview gab und dabei naiv von einem Einzelfall sprach, meldeten sich bei mir zahlreiche Eltern aus dem gesamten Bundesgebiet. Da erst wurde mir klar, wie die Lage wirklich ist: In Deutschland gibt es zahllose Fälle, in denen von Ämtern Eltern die Kinder weggenommen werden, ohne je Maßnahmen für eine schnelle Rückführung einzuleiten – und jeder Fall ist eine Tragödie.

Jedes Jahr werden in Deutschland Tausende Kinder aus ihren Familien genommen (siehe Seite 6) – manche allerdings zu Recht.

Hein: Natürlich, kein Zweifel.

Wie viele davon voreilig oder zu Unrecht?

Hein: Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht. Fakt ist, daß jedes untergebrachte Kind den Steuerzahler im Monat 3.000 bis 5.000 Euro kostet. Ich selbst kann aber gar nicht alle Fälle übernehmen, die an mich herangetragen werden, und ich allein bearbeite derzeit schon dreißig und das nur im Raum Berlin/Potsdam. Zahlreiche betroffene Eltern organisieren sich in Betroffeneninitiativen. Es gibt sogar eine Reihe von Familienrichtern, die diese Praxis offen kritisieren, etwa die Richtervereinigung VAK, der Verband Anwalt des Kindes.

Der Mönchengladbacher Familienrichter Ernst-Elmar Bergmann meint: In Deutschland „sind die Eltern machtlos – und selbst wenn sie vor Gericht gehen, ist das Jugendamt ihnen immer einen Schritt voraus“.

Hein: So ist es, in keinem anderen europäischen Land haben die Jugendämter derart weitreichende Befugnisse. Der Grund ist das Kinder- und Jugendhilfegesetz – StGB VIII – aus den dreißiger Jahren.

Wie sieht diese Machtlosigkeit konkret aus?

Hein: Im Strafrecht gibt es eine strenge Strafprozeßordnung, die das Verfahren regelt. Verfahren bei den Jugendämtern unterliegen dagegen keiner entsprechenden Kontrolle. Allerdings sind gar nicht die Gerichte die Wurzel des Problems, obwohl sie es sind, die den Kindesentzug anordnen müssen. Die Gerichte verhalten sich „lediglich“ meist viel zu unkritisch gegenüber den Jugendämtern und folgen in vielen Fällen deren Anträgen, ohne den vorgetragenen Sachverhalt auf den Wahrheitsgehalt genauer zu überprüfen oder die Angaben der Jugendämter in Frage zu stellen.

Warum sollten die Gerichte so unkritisch sein?

Hein: Natürlich sind längst nicht alle so, viele Richter versuchen die Tatsachen selbständig zu ermitteln. Aber es gibt auch genug, die meinen, was das Jugendamt sagt sei per se richtig. Sie können oder wollen sich nicht vorstellen, daß das Amt etwas Falsches behauptet: Da muß doch was dran sein!

Warum sollten die Ämter etwas Falsches behaupten?

Hein: Die Jugendämter haben Angst, zum Beispiel vor dem „Fall Dennis“: Der kleine Dennis aus Cottbus war mit etwa drei Jahren von seinen Eltern ans Bett gefesselt worden, er verlernte das Sprechen und verhungerte im Alter von sieben Jahren in der elterlichen Wohnung. Die Mutter lagerte das tote Kind über Jahre in ihrer Kühltruhe, bevor die Leiche 2004 entdeckt wurde. Solche Fälle sind in den letzten Jahren immer wieder durch die Medien gegangen.

Seit 2006 hat sich die Zahl der Kindeswegnahmen in Deutschland verdreifacht.

Hein: Da ist die Angst davor, man könnte an so einem Fall schuld werden. Da ist aber auch der Umstand, daß die Ämter aufgrund der genannten Gesetzeslage keiner Fach- oder Rechtsaufsicht unterliegen, sie nie gezwungen sind, sich zu rechtfertigen. Und merkt ein Amt, daß es falsch liegt, wird das meist nicht zugegeben, weil das ein Versagenseingeständnis wäre. Die Mitarbeiter werden durch die geltende Rechtslage geschützt. Ein typisches Szenario ist zum Beispiel: ein anonymer Hinweis, ein Antrag des Jugendamtes und ein Gericht, das ungeprüft dem Antrag folgt – weg ist das Kind!

Aber in den meisten Fällen liegt doch tatsächlich irgendeine Art von Elternversagen vor.

Hein: Ja, aber rechtfertigen – sicherlich schwerwiegende – Probleme wie Ehekrach und Depressionen gleich die Herausnahme der Kinder? Solche Familien brauchen Hilfe, sie haben Unterstützung verdient und nicht, in eine noch größere Katastrophe gestürzt zu werden. Es sind ja auch immer wieder die Eltern, die sich um Hilfe bittend an die Ämter wenden – und dann werden ihnen plötzlich die Kinder weggenommen! Das haben sie natürlich weder gewollt, noch konnten sie sich so etwas vorstellen. Und man muß sich die Verhältnismäßigkeit klarmachen: Der von Ihnen bereits zitierte Familienrichter Bergmann etwa meint, ein solches „Auseinderreißen“ bedeutet für Eltern und Kinder „zusätzliche Schäden“ und eine traumatische „Erfahrung, die nie, nie, nie mehr aufzuarbeiten ist“.

Wie hat man sich eine solche Kindeswegnahme konkret vorzustellen?

Hein: Das kann durchaus wie eine Entführung oder ein Überfall aussehen: Zum Beispiel Morgens um 5.30 Uhr klingeln Polizei und Jugendamt die Familie aus dem Bett und nehmen ein weinendes, sich wehrendes, völlig verzweifeltes kleines Kind, das nicht weiß wie ihm geschieht, einfach mit, während ebenso verzweifelte und weinende Eltern und Geschwister hilflos danebenstehen und nichts dagegen tun können. Unter Umständen ist dann in der Jugendamtsakte von einem „verwahrlosten Kinderzimmer“ die Rede und die Mutter sitzt allein in einem vollkommen aufgeräumten Kinderzimmer und versteht die Welt nicht mehr – und ich auch nicht.

Wann kehren die Kinder zurück?

Hein: Oft gar nicht: Es gibt nicht wenige Eltern, die ihre Kinder an so einem Morgen für immer verlieren! Sie denken jetzt vielleicht, Ziel der Inobhutnahme des Kindes ist, die akute Situation zu regeln und dann die Kinder zurück in die Obhut der Eltern zu geben – falsch. Im Gegenteil, die Kinder kommen in vielen Fällen in neue Familien und dann dürfen die Eltern ihre Kinder gar nicht mehr oder nur selten sehen, um den Prozeß der Integration in die Pflegefamilie nicht zu stören. Es ist absurd: Ganz gezielt werden die Kinder den Eltern entfremdet! Da heißt es zum Beispiel: „Das Kind hatte am Wochenende Umgang mit den Eltern – jetzt ist es verhaltensauffällig. Deshalb wird eine Umgangssperre von einem halben Jahr verfügt.“ Eine Art Folter für Eltern wie Kinder. Die meisten Kinder wehren sich natürlich eine Zeitlang dagegen, bevor sie endgültig resignieren. Notfalls werden sie so lange mit Ritalin ruhiggestellt, bis ihr Widerstand gebrochen ist. Für jede liebende Mutter oder Vater, egal welche Fehler sie zuvor gemacht haben, ist das ein absoluter Alptraum. Und es blutet einem das Herz, wenn man die Fälle liest!

In Deutschland steht die Familie doch unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes – wie kann da so etwas überhaupt möglich sein?

Hein: Zwar heißt es dort in Artikel 6, Absatz 3: „Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder ... von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“ Doch heißt es zuvor in Absatz 2 auch: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern ...“ Die Kindeswegnahme muß also eine Art Ultima ratio darstellen. Ist das nicht der Fall, so steht das grundgesetzlich geschützte „natürliche Recht“ der Eltern auf ihre Kinder an erster Stelle.

Für Sie also ein Verstoß gegen die Verfassung?

Hein: Eindeutig, und es hat auch schon deshalb etliche Verfassungsbeschwerden gegeben, die jedoch häufig aufgrund formeller Fehler gescheitert sind.

Warum warten die Eltern häufig erst Jahre ab, bis sie sich gerichtlich wehren?

Hein: Die meisten der Betroffenen gehören der sozial schwachen Schicht an. Diesen Leuten fehlt oft das Wissen, die Bildung, das nötige Geld, oft auch das Selbstbewußtsein und der nötige Überblick, um sich in der Situation richtig zu verhalten. Viele sind zudem in einer Auseinandersetzung gegen ein allmächtiges Jugendamt völlig überfordert oder glauben gar an die Allmacht der Jugendämter. Die Eltern, die ich kennengelernt habe, wurden zudem von den Ämtern auch gar nicht über ihre Rechte und Möglichkeiten aufgeklärt.

Die kleinen Leute liegen bekanntlich linken Parteien besonders am Herzen, gibt es keine Hilfe aus der Politik?

Hein: Fehlanzeige! Ich habe mich selbst im letzten Jahr an die SPD-Fraktion im Bundestag und Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier gewandt, bis heute aber noch nicht einmal eine Antwort oder Eingangsmitteilung erhalten. Das gleiche mit der Fraktion der Linken im Brandenburger Landtag. Petitionen betroffener Eltern an den Bundestag haben auch nichts gebracht, obgleich Deutschland schon mehrfach vom Petitionsausschuß des Europäischen Parlaments gerügt wurde, daß hierzulande in Jugendamts- und Familienrechtsverfahren die Menschenrechte nicht gewahrt werden.

Die CDU allerdings ist doch die Partei mit dem Herz für die Familie.

Hein: Im Gegenteil, die CDU rühmt sich zwar, besonders viel Geld für die Familien auszugeben, aber sie verbessert damit die Möglichkeit der Jugendämter, Kinder noch schneller aus ihren Familien zu holen. Die Wahrheit ist, daß keine der Parteien ein Ohr für die hier dargestellten Fälle hat.

Was fordern Sie?

Hein: Wir alle müssen die Opfer so entschieden unterstützen, daß die Politik und die Medien das Thema nicht mehr länger ignorieren können. Die Jugendämter müssen verpflichtet werden nachzuweisen, welche Maßnahmen zuvor ergriffen und welche Angebote einer Familienhilfe unterbreitet wurden, um den Sachverhalt aufzuklären und eine Inobhutnahme zu vermeiden, etwa durch ein Clearing einer unabhängigen Stelle. Aber auch nach einer Trennung muß zwingend die Bindung der Kinder zur Herkunftsfamilie durch einen regelmäßigen Umgang gepflegt werden. Transparentes Ziel der Maßnahme sollte die zeitnahe Rückführung der Kinder in den Haushalt der Herkunftsfamilie sein. Die Elternkompetenz wird nicht dadurch gestärkt, daß die Kinder dauerhaft von ihnen getrennt werden. Der Staat darf sich nicht länger über die Eltern stellen und meinen, er sei besser erziehungsgeeignet, und mit dem Argument, er habe ein Wächteramt, auch Fehlentscheidungen und Untätigkeit rechtfertigen.

 

Annett Hein, etwa achtzig Prozent ihrer anwaltlichen Tätigkeit machen die Fälle von staatlichem Kindesentzug inzwischen aus. Die Potsdamer Rechtsanwältin Annett Hein, Jahrgang 1969, verheiratet, zwei Kinder, engagiert sich seit 2009 nicht nur aus beruflicher Überzeugung, sondern als Staatsbürgerin und Mutter für die Opfer einer Rechtspraxis, die auch international auf Kritik stößt. So stellte der Petitonsausschuß des Europäischen Parlaments 2009 „zahlreiche Verstöße gegen Elternrechte“ in Deutschland fest. Auf der Netzseite www.betroffene-eltern.com melden sich Väter und Mütter zu Wort, stellen ihre Erfahrungen vor und bitten um Unterstützung der Öffentlichkeit. Im Verband Anwalt des Kindes (VAK) werben engagierte Juristen und Familienrichter für eine professionelle Lösung: Eine verfehlte Rechtslage führe zwangsläufig zur heutigen Problemlage, handeln müsse daher die Politik.

 www.anwaltskanzlei.hein-pdm.dewww.betroffene-eltern.com,  www.v-a-k.de

 

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