© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/11 28. Januar 2011

Was Hänschen nicht lernt
… lernt Hans nimmermehr: Die Grundschule ist auch nicht mehr das, was sie einmal war
Ellen Kositza

Die prominente Lehrerin war der Meinung, „wenn einer aus der Rolle fällt, dann gibt’s einen Klaps“. Dabei war sie sich bewußt, daß körperliche Züchtigung verboten ist. Drum kündigte sie diese Erziehungsmethode offensiv vor den Eltern an: „Wenn ihnen das nicht gefällt, es gibt ja eine Parallelklasse.“ Schläge habe es nicht gesetzt, „aber es klatschte durchaus mal“.

Die Lehrerin war Loki Schmidt. Sie ist vor drei Monaten unter höchster politischer Teilnahme beigesetzt worden. Niemand hätte es gewagt, sie bösartiger Lehrmethoden zu bezichtigen, im Gegenteil: Ihr Bekenntnis zum autoritativen Erziehungsstil verhalf ihr noch 2005 zu einer pädagogischen Ratgeberserie in der Bild-Zeitung

Loki Schmidt gab den veränderten gesellschaftlichen Zuständen die Schuld an der Krise des heutigen Schulsystems: Zu ihrer aktiven Zeit als Lehrerin hätten sich Eltern nie über disziplinarische Maßnahmen beschwert. Heute hingegen werde der Bürger von kleinauf aus seine Rechte hingewiesen. „Von den Pflichten des Einzelnen ist nie die Rede. Irgendwas ist da schiefgelaufen.“

 Schiefgelaufen sei etwas in der pädagogischen Laufbahn von Ursula Sarrazin, wird nun weit und breit über „Deutschlands umstrittenste Lehrerin“ geunkt. Was für eine durchsichtige Kampagne! Frau Sarrazin, Grundschullehrerin in Berlin-Westend, habe einen japanischen Schüler „Suzuki“ tituliert, schreie manchmal, „daß ihr Kopf leicht rot anläuft“, habe mit einer Flöte nach einer Schülerin geschlagen, zudem seien Beschwerdebriefe von Eltern aus den Jahren 2002 und 2009 aufgetaucht. Es gäbe Kinder, die „mit hängenden Schultern“ zu Frau Sarrazins Stunden gingen.

Herrje! Es braucht keine akribische Recherche, um Vergleichbares im Dutzend zu finden. Hängende Schultern beim puren Gedanken an ein Fach oder einen Lehrer? Aber sicher! Ich hatte einen Lehrer, der mich konsequent „Ellen Lang“ nannte und spottend auf meine Körpergröße anspielte. Gelegentlich schreiende Lehrer – mit und ohne rotem Kopf – gab es damals und soll es nach aktuellen Berichten noch heute geben, ähnlich verhält es sich mit geworfenen Kreidestücken und angedeuteten Schlägen. „Wenn Du die Klappe nicht hältst, gibt’s was damit“, soll die strenge Biolehrerin einer Tochter regelmäßig verkünden und das große Geodreieck schwenken. Die Frau macht einen hervorragenden Unterricht. „Beschwerdebriefe“ habe ich zwischen 2002 und 2009 drei oder vier geschrieben. Ob die je „auftauchen“?

Die Debatte um die Sarrazins als autoritäres und herzloses „Doppelpack“ flankierend, keimt nun abermals ein Streit auf, der sich um die Pole „Kuschel-“ und „Schwarze Pädagogik“ dreht. Während rund um die Pisa-Studien die weiterführenden Schulen in den Fokus geraten waren, werden jetzt Didaktik und Praxis der Grundschule verhandelt. Sogenannte Bildungsexperten widersprechen Frau Sarrazins Vorstellungen von Disziplin und klaren Regeln. Kritik an ungezogenen Kindern habe es schon in der Antike gegeben. Der Grundschulkanon sei in den letzten Jahrzehnten „kindgerechter“ geworden, „soziales Lernen“ und „demokratisches Handeln“ (Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers im Stern) stünden im Vordergrund. Daß die Schüler dadurch „lebhafter“ seien, solle man positiv werten, ebenso die Tatsache, daß Eltern sich heute „unbequemer“ verhielten.

Erlangten 1970 nur 11 Prozent eines Jahrgangs die Hochschulreife, werden heute für rund 40 Prozent der Grundschüler Gymnasialempfehlungen ausgesprochen, in manchen Städten sind es teilweise 70 Prozent. Mit einer rapiden Steigerung kindlicher Intelligenz dürften diese Zahlen indes wenig zu tun haben. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Das Anspruchsniveau in den Grundschulen wird stetig abgesenkt.

Man lasse sich nicht von den offiziellen Curricula täuschen; weder davon, daß Englischunterricht bundesweit zu einem Grundschulfach geworden ist, noch von komplexen Kreativ-Aufgaben in Lehrbüchern: „Was denkst Du über Zahlen, äußere Deine Meinung!“ lautet eine der Initiativanforderungen, die an Erstkläßler gestellt werden. Grundlegende Fertigkeiten wie Rechtschreibung hingegen werden im modernen Grundschulunterricht hintan gestellt. Nicht angestrichen wird in den ersten beiden Jahren, wenn Kinder „kreativ“ nach reinem Hörverstehen schreiben: Kattse und Hunt.

Das hat unter anderem dazu geführt, daß heute sogenannte Unterschichtkinder rund 17 Fehler pro 100 Wörter machen – vor 40 Jahren waren es etwa sieben und damit ähnlich viele wie bei Grundschülern der oberen Mittelschicht. Sogar die IGLU-Studie, die der deutschen Grundschule ein positives Zeugnis ausstellte, hielt fest, daß zehn Prozent der Zehnjährigen nicht in der Lage sind, Sachverhalte aus kurzen Textpassagen zu erschließen.

Das „erniedrigende“ Sitzenbleiben in der Grundschule gibt es in zahlreichen Bundesländern nicht mehr. Das Konzept nennt sich flexible Schuleingangsphase und soll den Schülern ermöglichen, im Laufe von ein bis drei Jahren die dritte Klasse zu erreichen. Gepaart wird dies gern mit „Schülerpartnerschaften“: Hier darf stundenweise ein Sechsjähriger einem Neunjährigen behilflich sein – ohne, daß der Lehrer eingreift. Eingeübt werden soll damit „soziale Kompetenz“, deren Ingredienzen auch in den Kopfnoten zum Tragen kommen – wo diese Zensuren nicht gänzlich abgeschafft wurden. In den meisten Ländern ist davon Sozial- und Arbeitsverhalten als Rumpf geblieben. Bewertet werden damit verwaschene Qualifikationen wie Zivilcourage, Toleranz, Initiative und Kreativität.

Zu all diesen didaktischen Experimenten, die dazu führten, die Schere zwischen den sozialen Schichten weiter zu öffnen, kommt hinzu, daß Eltern, Lehrer und Verwaltung nicht mehr an einem Strang ziehen. Das wirkt sich vor allem in jenen westdeutschen Städten aus, wo die derart Partei gewordenen Erziehungsverantwortlichen häufig nicht mal dieselbe Sprache sprechen.

Laut Gesetz kann der Schulbesuch erzwungen werden. Durchgesetzt wird dies selten – zu beschwerlich, sich amtlicherseits durch ein Dickicht an sozialen und sprachlichen Problemen zu wühlen. Von all diesen Problemen wird Ursula Sarrazin ein Lied singen können. Sie hat es verhältnismäßig leise angestimmt. Um so dröhnender schlägt ihr das Echo entgegen.

Foto: Grundschüler: Nicht angestrichen wird in den ersten beiden Jahren, wenn Kinder „kreativ“ nach reinem Hörverstehen schreiben

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