© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/11 28. Januar 2011

Lockerungsübungen
Antiquierter Krawattenzwang
Karl Heinzen

Der vom Bundestagspräsidium ausgesprochene Krawattenzwang für Parlamentarier männlichen Geschlechts, die ihm als Schriftführer in Plenarsitzungen zur Seite stehen, hat für einen Eklat gesorgt. Die Abgeordneten Alexander Süßmair (Linke) und Sven-Christian Kindler (Grüne) mußten ihre Plätze räumen, weil sie es unterlassen hatten, der Anordnung Folge zu leisten. Damit ist ein gesellschaftspolitischer Grundsatzstreit entbrannt, der auch kulturhistorische Fragen aufwirft.

Wie kommt es, daß die Konvention von Männern für Auftritte in der Öffentlichkeit das Tragen einer Krawatte verlangt? Handelt es sich bei ihr nicht um zwecklosen Zierat? Verfestigt sie nicht überprüfungswürdige Geschlechterrollen, da sie als ein dem Manne nahezu exklusiv vorbehaltenes Kleidungsstück zu betrachten ist, das diesen mit seiner phallischen Form und auf den Phallus zeigend dazu einlädt, den Gockel und Sexualprotz herauszukehren? An Debattenstoff wird es dem Parlament also nicht mangeln.

Letztlich geht es natürlich um Menschenrechte. Es wird zu klären sein, ob die Einschränkung der individuellen Selbstbestimmung hinsichtlich der Bekleidung grundgesetzkonform ist, denn Abgeordnete sind Bürger wie alle anderen auch. Möglicherweise wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen.

Unabhängig von dieser juristischen Problematik kann man die Anordnung des Bundestagspräsidiums einfach nur für antiquiert halten. So betrachtet, wäre sie aber in Übereinstimmung mit Wesen und Stil des deutschen Parlamentarismus von heute. Der Bundestag unterwirft sich nämlich Regularien und pflegt Rituale, über die die Zeit längst hinweggegangen ist. Der Öffentlichkeit bleibt dies verborgen, weil sie am parlamentarischen Geschehen so gut wie keinen Anteil nimmt. Es ist nicht einzusehen, daß sich der Bundestag immer noch den Luxus von Plenarsitzungen erlaubt, obwohl der Glaube, in ihnen würde ernsthafte Überzeugungsarbeit geleistet, in der Bevölkerung längst erloschen ist. Auch als Bühne ist das Plenum untauglich: Aus den kurzen Debattenausschnitten in den Nachrichten können die Bürger kaum herauslesen, welche Positionen die Politiker vertreten. Sie erkennen in diesen nicht einmal, ob die Schriftführer der Sitzungen Krawatte tragen oder nicht.

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