© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/11 04. Februar 2011

Wenn die Atemschaukel stockt
Literatur-Symposium zu Gulag- und Totalitarismuserfahrungen deutschsprachiger Autoren des Ostens
Martin Schmidt

Ähnlich wie Herta Müller in ihrer „Atemschaukel“ dem Leser einiges zumutet, erforderte das jüngste Literaturwissenschaftliche Symposium der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen die volle Aufmerksamkeit. Die Thematik des Seminars im Christkönigshaus in Stuttgart-Hohenheim am 22. und 23. Januar war gut gewählt: „Bis hin zum Gulag? Bestehen und Versagen deutschsprachiger Autoren des Ostens gegenüber den Herausforderungen des Totalitarismus“. Die Verleihung des Literaturnobelpreises an die Banater Schwäbin Herta Müller im Oktober 2009 bildete ebenso einen öffentlichkeitswirksamen Hintergrund wie die im Herbst letzten Jahres bekanntgewordenen Securitate-Verstrickungen des Lyrikers Oskar Pastior, dessen persönliche Aufzeichnungen aus dem Alltag der 60.000 rumäniendeutschen Zwangsarbeiter in der Sowjetunion der „Atemschaukel“ als Vorlage dienten.

Karol Sauerland, in der DDR aufgewachsener Sohn deutsch-jüdischer Emigranten und Leiter der Abteilung für Literaturwissenschaft an der Warschauer Universität, führte in die Thematik ein. Dabei zitierte der seinerzeitige Chefredakteur der polnischen Untergrundzeitschrift Europa aus einem 1988 dort veröffentlichten Interview mit dem Gulag-Insassen Horst Bienek, in dem der oberschlesische Schriftsteller prophezeite: „Ich bin überzeugt, daß es einst in Workuta ein Museum geben wird, so wie es eines in Auschwitz gibt.“ Das Stadtmuseum Workuta erinnert heute zwar auch an die stalinistische „Vernichtung durch Arbeit“, doch die allgemeine Bewußtmachung dieser Massenverbrechen hat längst nicht den Stellenwert wie die Verbrechen im Namen der NS-Rassenideologie.

Mit welch zerstörerischer Kraft der rote Totalitarismus seine tatsächlichen oder nur mutmaßlichen Gegner traf, machte Monika Tokarzewska aus Thorn (Toruń) in ihrem tiefenpsychologisch angelegten Vortrag „Die Gefängniszelle als Erfahrung von Ausnahmezustand bei Horst Bienek und Aleksander Wat“ deutlich. Die junge Polin skizzierte Wats in den Sechzigern von Czeslaw Milosz festgehaltene „Erinnerungen“ von 1926 bis 1945 und Bieneks Roman „Die Zelle“ von 1968 als zwar grundverschiedene, aber literarisch jeweils bedeutende Wahrnehmungsweisen des „ästhetischen Ausnahmezustandes“ in sowjetischen Gefängnissen.

Während der vormalige Kommunist Wat seine Zeit in der Moskauer Lubjanka als perfiden Versuch zur Zerstörung jedweden menschlichen Innenlebens wahrnahm, hob Bienek in seinen Schilderungen über DDR-Gefängnisse die totale Reduzierung der Insassen auf alles Körperliche hervor. Doch die vom System beabsichtigte Marginalisierung alles Geistig-Politischen sei damit gerade nicht erreicht worden. Im Gegenteil: Das Ergebnis war, so Bienek, eine immense Vergeistigung. Sein Protagonist sah sich gezwungen, sich immer wieder mit sich selbst zu beschäftigen; da es keine äußeren Ereignisse gab, wurde alles, auch die unbedeutendste Kleinigkeit des Zellenalltags, zum Ereignis.

Die anschließende lebhafte Diskussion war von berührenden Zeitzeugenberichten von Rußlanddeutschen, Siebenbürger Sachsen und Donauschwaben aus Rumänien und Serbien über eigene Lagererfahrungen geprägt sowie von der Erkenntnis, daß neben solch gekonnten literarischen Schilderungen wie jenen Wats, Bieneks, Alexander Solschenizyns („Im Vorhof der Hölle“, „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“), Igor Schalamows („Kolyma“) oder Eberhard Pauschs („Und dennoch überlebt“) die große Masse derer nicht zu vergessen ist, die angesichts der grausamen Erinnerungen verstummten.

Viele konnten selbst ihren engsten Angehörigen gar nicht oder erst spät etwas darüber berichten, andere fanden in einer persönlichen Memoirenliteratur das geeignete Mittel, die schaurigen Bilder der Vergangenheit zu verarbeiten. Solche manchmal kaum lesbaren Schriften seien allerdings vor allem für die Verfasser und ihre mit den geschichtlichen Hintergründen vertrauten Landsmannschaften, etwa die Rußland- oder Rumäniendeutschen, von Bedeutung, während es der Literatur im höheren Sinne zukomme, die Thematik einer breiteren Öffentlichkeit zu erschließen.

Es folgte ein Vergleich der „Reden über Heimat und Heimatverlust“ bei Franz Fühmann mit denen bei Johannes Bobrowski (Referent: Withold Bonner), Jörg Bernhard Bilkes Vortrag „Vergewaltigungen durch die Rote Armee? – Wie Boris Djacenko mundtot gemacht wurde“, Ingmar Brantschs Gedankengänge zum Thema „Unter Larven die einzig fühlende Brust – Eginald Schlattner und die Möglichkeiten des Widerstandes in einer Diktatur“ sowie Stefan Tepperts Ausführungen über den „Genozid in Titos Jugoslawien – Johannes Weidenheims Roman ‘Treffpunkt jenseits der Schuld’.“

Am Schluß des Hohenheimer Symposiums stand, wie hätte es anders sein können, die Auseinandersetzung mit der rumäniendeutschen Nobelpreisträgerin Herta Müller. Georg Aescht, Chefredakteur der von der Stiftung deutsche Kultur im östlichen Europa herausgegebenen Kulturpolitischen Korrespondenz, referierte über „Wenn die Atemschaukel stockt – Herta Müllers stetes episches Ringen mit der Sprachlosigkeit vor der erlebten Geschichte“. Mit einer dem Thema angemessenen Sprachkraft begründete der Siebenbürger Aescht seine Wertschätzung der Autorin, in deren Werken es „immer um alles“ gehe und die deshalb heute als „totale Schriftstellerpersönlichkeit“ nicht ihresgleichen finde.

Mit Herta Müller spreche eine Geschädigte des Ceausescu-Systems zu uns, deren Erfahrungen zum Erkenntnismittel auch für andere Totalitarismus-Schilderungen wurden, allen voran den in der „Atemschaukel“ dargestellten Sowjetarbeitslagern für die Rumäniendeutschen. Aescht betonte, daß sogar bei seinem alles andere als literaturerfahrenen Vater, der selbst fünf Jahre als Zwangsarbeiter schuften mußte, die „Wortgewalt“ Müllers Eindruck machte. Trotz des Fehlens klarer Handlungsstränge las und verstand er die „Atemschaukel“ und wurde von meisterhaften Bildern wie dem „Hungerengel“ ebenso gebannt wie Millionen andere Leser. Die Prosa Herta Müllers tauge zwar nicht für den modernen Fernsehkonsumenten, so das Fazit des Referenten, sei aber wie ihr ganzes Werk „wahrer als die genauesten dokumentarischen Aufzeichnungen“.

Kontakt: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Kaiserstr. 113, 53113 Bonn, Telefon: 02 28 / 91 51 20, kulturstiftung@t-online.de

 www.kulturstiftung-der-deutschen-vertriebenen.de

Foto: Relief von Horst Bienek und Herta Müller im Angesicht von Gulag und Zellenblock (Hohenschönhausen): Vielfach mundtot gemacht

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