© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/11 11. Februar 2011

Weder Opfer noch Verlierer
Eine kurze Geschichte der konservativen Intelligenz nach 1945 (X und Schluß): Bilanz und Ausblick
Karlheinz Weissmann

Man kann die Geschichte des deutschen Konservatismus der Nachkriegszeit nicht als Erfolgsgeschichte schreiben. Das ist, wie dargelegt, nicht nur Folge eines säkularen Trends, das heißt des Verfalls konservativer Positionen in allen europäischen Staaten und Nordamerika, sondern hängt mit spezifischen Bedingungen der deutschen Geschichte und der deutschen Politik zusammen. Auch in Großbritannien oder Frankreich oder in den USA stehen Konservative unter dem Druck von Gedankenkontrolle und politisch-korrekten Sprachregeln, überall wurden und werden sie aus wichtigen Positionen gedrängt, verlieren ihren natürlichen Einfluß auf Staat und Religion, sehen sich durch die kulturelle Linke, aber auch durch einen kapitalgestützten „weißen Kommunismus“ entmachtet.

Aber nur in Deutschland reagieren Konservative darauf so defätistisch, mit einer Selbstwahrnehmung als verlorener Haufen oder als Verlierer. Das erklärt etwas davon, warum die Konservativen niemals zuvor so harmlos, so zahm und zivil auftraten. Kaum jemand kann sich vorstellen, wie selbstverständlich es war, daß der Kanzler Hakenkreuzschmierereien an einer Synagoge mit Ohrfeigen ahnden wollte, die „Deutsche Jugend des Ostens“ in Grauhemd und mit schwarzen Fahnen, mit Fanfarenstößen und Trommelschlag den Auftritt eines Bundesministers begleitete, ein Bundestagsabgeordneter die Schutzpflicht gegenüber den Deutschen in Südwest erklärte, die FDP die Zukunft des Reichsgedankens diskutierte und die Junge Union vom Verräter Thomas Mann nichts wissen wollte, ein Ministerpräsident Folter im Fall des Staatsnotstands für legitim erklärte, ein Schulleiter seiner Abiturientin mit stummem Vorwurf das Taschentuch reichte, um den Lippenstift abzuwischen, sich die sprichwörtliche alte Dame auf dem dunklen Nachhauseweg sicher wußte, Anweisungen des Schaffners undiskutiert zu befolgen waren, der Hauswart glaubwürdig mit Rauswurf drohte, falls man die Kehrwoche vergaß, und dem Vater bei Tisch zuerst und das beste Stück vorgelegt wurde.

Der Hinweis hat nichts mit Nostalgie zu tun, auch nichts mit restaurativen Sehnsüchten, er soll nur die Diskrepanz deutlich machen, zwischen dem, was noch in der jüngeren Vergangenheit als selbstverständlich galt, und dem, womit wir uns heute abfinden sollen. Die Konservativen haben die große Emanzipation in den vergangenen Jahrzehnten mit Mißtrauen verfolgt und sich selten getäuscht. Die Forderung nach mehr Gleichheit war tatsächlich Tarnung für die Gleichmacherei, die „Demokratisierung“ hat unkontrollierbaren Einflußgruppen Tür und Tor geöffnet, die Infragestellung jeder Autorität die Funktionstüchtigkeit des Staates beschädigt, Herrschaftsverhältnisse verschleiert, an Zensur und flächendeckende Überwachung gewöhnt, die Einwanderung hat weder den Volkstod verhindert noch die Kultur bereichert, aber die erwartbare Fraktionierung der Gesellschaft hervorgerufen, der Dauerbezug aufs Soziale massenhafte Unselbständigkeit erzeugt, das Absehen von einer Haushaltspolitik, die den Namen verdient, die Verschuldung in atemberaubende Höhen getrieben, die Sexuelle Befreiung und der Feminismus haben wesentlich zur Zerstörung von Familie und Ehe beigetragen, und die Diskreditierung des Leistungsprinzips hat selbstverständlich nichts als die Wortergreifung der low performer gebracht.

Wenn die katechontische Anstrengung wirkungslos blieb, sagt das nichts gegen ihr Recht. Nur war die Durchschlagskraft eines Zivilisationsprozesses unerwartet groß, der die konservativen Grundwahrheiten – „Die Bäume wachsen nicht in den Himmel“ und „Wer nicht hören will, muß fühlen“ – außer Kraft gesetzt zu haben schien. Die moderne Welt versprach allen alles, sie bot die Möglichkeit, die Verhältnisse durch Willensakte oder in der Konsequenz des technischen Selbstlaufs in jede gewünschte Richtung zu ändern. Wer den optimistischen Erwartungen widersprach und darauf hinwies, daß alle individuelle und kollektive Erfahrung dagegen spricht, daß in einer begrenzten Welt unbegrenzter Fortschritt möglich ist, sah sich als lästiger Mahner in die Ecke gestellt und durch das Ausbleiben der Apokalypse widerlegt.

Die übliche Daseinsdeutung kommt erst jetzt an ihre Grenzen. Klimawandel und demographischer Kollaps, kleine Kriege und große Kriege, Staatszerfall und Überfremdung, Dysfunktion der EU und Währungskrise, Wohlstandsverwahrlosung und Bildungskatastrophe, nichts davon wird sich mit dem üblichen Instrumentarium und etwas Orange bewältigen lassen. Es werden mehr als die Erträge von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder verbraucht, es geht schon um die Bestände, die in den beiden letzten Jahrhunderten angelegt wurden. Alles, was die Europäisierung der Welt – im Guten wie im Schlechten – mit sich gebracht hat, ist zügigem Verschleiß unterworfen.

Der politische Abstieg Europas war nur der erste Schritt in diese Richtung, der Verfall der Supermacht USA ist der letzte. Was folgt, zeichnet sich erst undeutlich ab, aber soviel ist erkennbar: das Modell, das auf die Verbindung von Markt und Selbstentfaltung setzte, hat seine beste Zeit hinter sich. Es stehen keine Ressourcen zur Verfügung, um den American way of life im globalen Maßstab umzusetzen, und selbst im Wohlfahrtsgürtel ist er an Grenzen gestoßen. Spätere Zeiten werden den Glauben an seine Verheißungen etwas irritiert auf eine Verschnaufpause der Weltvernunft zurückführen.

Womit nicht gesagt ist, daß das „asiatische Jahrhundert“, wenn es kommt, dem Europäer und dem Deutschen sympathischer sein muß. Allerdings bietet das kulturelle Selbstverständnis Chinas ein starkes Korrektiv für jenen naiven Universalismus, der, wenn nicht die praktische Politik Washingtons, dann doch den ideologischen Überbau des „Westens“ seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestimmt hat. Die offene Härte der asiatischen Führungsmacht wie das Selbstbewußtsein, das sich aus langer Überlieferung speist, sind dem Konservativen aus Mentalitätsgründen sympathisch, dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß an die Stelle alter Konkurrenten und Gegner neue treten. Einen Vorteil bedeutet die Veränderung nur, wenn die Konservativen aufhören, sich als Opfer zu betrachten und bestenfalls auf eine Nische oder die Kultivierung des neubürgerlichen Biedermeier hoffen.

In einem sehr klugen Essay hat Rudolf Borchardt davon gesprochen, daß Konservatismus niemals „die stupide Erhaltung alles dessen ist, was aus einem nichtigen Grunde körperlich noch nicht so völlig ruiniert ist, wie sittlich und geistig“. Der Konservatismus dürfe auch nicht in einem „Gegenliberalismus“ aufgehen oder Klassenkampf von oben treiben. In seinen starken Zeiten habe der Konservatismus immer schöpferisch gewirkt, ausgespannt zwischen Tradition und Revolution, was zuletzt bedeutet: „... die ‘konservative Revolution’ kann nur aus den Kammern vorstoßen, in denen die Tatsache, daß kein je in die Nation getretener großer Gedanke der Vorzeit zu Ende gedacht werden kann und alle unerschöpft sind“, Geltung hat.

Borchardt sprach in demselben Zusammenhang von „setzendem Konservatismus“, der als Pendant zu jenem anderen nötig ist, der lediglich das konservative Geschäft des Schonens und Bewahrens treibt. In ruhigen Zeiten genügt Konservieren, in unruhigen nicht. Da muß der Konservative nicht nur zum Handeln entschlossen sein, sondern auch seinen Realitätssinn zur Geltung bringen, das heißt unerbittlich darauf hinweisen, daß die Welt keine Einheit, sondern eine Vielheit ist, daß Staaten keine Freunde haben, sondern Interessen, daß sich diese Interessen orientieren an der Notwendigkeit, die Dauer der Ordnung aufrechtzuerhalten, daß dazu auch der Schutz der natürlichen wie kulturellen Substanz eines Volkes gehört und schließlich, daß man nicht das sittliche Recht hat, von seinen Mitmenschen immer das Beste zu glauben.

Die aufgezeigte ist keine freundliche Perspektive und nach Marketingprinzipien kaum vermittelbar. Aber sie bietet eine Möglichkeit, vor allem wenn es den Konservativen gelingt, eine alte Befürchtung ihrer Feinde Wahrheit werden zu lassen: daß sie auch anders können.

Mit dieser Folge endet die JF-Serie des Historikers Karlheinz Weißmann. Eine Langversion wird im Verlag Edition Antaios, Schnellroda, erscheinen. Telefon/Fax: 03 46 32 / 9 09 41, Internet: www.antaios.de

Foto: Starke Wurzeln: Die übliche Daeinsdeutung stößt jetzt an ihre Grenzen

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