© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/11 11. Februar 2011

Das Vermächtnis der „nutzlosen“ Antike
Zum 125. Geburtstag des Frankfurter Altertumswissenschaftlers Karl Reinhardt
Ludwig Kreisler

Nicht zufällig wurde gerade das Tagewerk der Altphilologen an deutschen Universitäten in spätwilhelminischer Zeit als „Wissenschaft vom Nichtwissenswerten“ verspottet. Auf fruchtbaren Boden fiel diese Polemik, weil die amtlichen Überlieferer „humanistischer Bildung“ seit der Reichsgründung ohnehin unter Rechtfertigungszwang standen. Eine auf dem Weltmarkt operierende Industrie- und Handelsmacht benötigte schließlich Ökonomen, Naturwissenschaftler, Ingenieure, Techniker, aber keine Experten für „tote Sprachen“ und „unnütze“ Dinge wie griechische Mythologie.

Die Altertumswissenschaftler reagierten unterschiedlich auf ihren sinkenden bildungspolitischen Einfluß. Ihr Gros fuhr einfach fort im Geschäft, trieb autistisch Textkritik, Metrik, Silbenzählen, „Lautschieberei“ (Victor Klemperer). Eine Minderheit antwortete hingegen auf den utilitaristischen Zeitgeist mit dem Angebot, sich Orientierung gebend und sinnstiftend „nützlich“ zu machen.

Und im Bann weltanschaulich derart ambitionierter Lehrer, vor allem des kulturhistorische Horizonte eröffnenden, hochkonservativen Berliner Archegeten Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931) wuchs der vor 125 Jahren, am 14. Februar 1886 in Detmold geborene Karl Reinhardt auf. Die Ironie der Geschichte wollte es, daß sein Vater, der Gymnasiallehrer Karl Reinhardt, ein Verfechter „moderner“ Sprachschulung war. Dieser Schöpfer des ersten Frankfurter Realgymnasiums setzte bis 1918 im preußischen Kultusministerium seine Reformpläne um und durfte sie 1919 als Mitbegründer des Internats Schloß Salem nochmals praktisch bewähren.

Die anders gelagerten väterlichen Erziehungsideale ließen Reinhardt junior lange vor der altphilologischen Laufbahn zurückschrecken. Die Bonner Habilitation im August 1914, „als am Rhein schon die Wachen aufzogen“, erscheint in autobiographischer Spiegelung daher eher wie eine Flucht vor drohenden Schrecknissen des Alltags als Lateinpauker. Diese Phase des Zauderns endete, als er sich in die Vorsokratiker versenkte („Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie“, 1916) und sich dann auf Poseidonios aus Apameia (ca. 135–50 v. Chr.) konzentrierte. Das Poseidonios-Manuskript trug ihm 1920 eine Berufung nach Hamburg ein und motivierte noch 1924 seinen Wechsel nach Frankfurt, wo Reinhardt seine eigentliche Wirkungsstätte fand.

Im Druck lag das dicke Buch erst 1921 vor, von C.H. Beck, wo gerade „Der Untergang des Abendlandes“ die Verlagskasse füllte, nicht verlegt für „Lautschieber“, sondern für ein breites Publikum. Ein Welterfolg, der den bis dahin philosophiehistorisch mißachteten Lehrer Ciceros sporadisch als den „großen Poseidonios“ präsentierte. Nicht von ungefähr, denn als Kern von dessen Geschichtsdenken hatte Reinhardt, unabhängig von Oswald Spengler, eine Kulturtheorie entfaltet, derzufolge materieller Fortschritt, die Ausbreitung der spenglerschen „Zivilisation“, naturgesetzmäßig mit einem „Verfall“ geistiger, ethischer „Kultur“ einhergehe.

Die Monographie über den antiken Spengler-Vorläufer erzeugte bei Rezensenten jedoch ein ebenso schwaches Echo wie Reinhardts „Neue Untersuchungen“ über den „Welterklärer“ von Rhodos („Kosmos und Sympathie“, 1926). Als den von ihm gefeierten einzigen schöpferischen Geist des frühen Hellenismus, dem sein Zeitalter ein Philosophie und empirische Wissenschaft synthetisierendes „Weltbild“ verdanke, als Reformer der Stoa und Überwinder der Skepsis, wollte ihn kaum ein Fachkollege akzeptieren.

Was dem Ansehen des Frankfurter Ordinarius nicht abträglich war. Es mehrte sich sogar unablässig, als er sich Ende der zwanziger Jahre den griechischen Tragikern zuwandte und die vitale „Bildungskraft der Antike“ in modernen Medien wie dem Rundfunk zu beschwören wußte, bezeugt in zahlreichen Interpretationen zu Goethe, Hölderlin, Nietzsche. Reinhardt, im Zentrum der 1933 in alle Winde zerstreuten geisteswissenschaftlichen „Frankfurter Schule“ stehend, im steten Austausch mit Walter F. Otto, Max Kommerell, Ernst H. Kantorowicz und Kurt Riezler, profilierte sich damit, auch dank des Nimbus des konsequenten „Inneren Emigranten“, bis in die Adenauer-Ära hinein, bis zu seinem Tod 1958, als der neben Werner Jaeger (1888–1961), dem Programmatiker des „Dritten Humanismus“, wirkungsmächtigste Hüter und Vermittler des „Vermächtnisses der Antike“.

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