© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/11 18. Februar 2011

Gefährlicher Größenwahn
Gesetzliche Krankenversicherung: Die fusionierten Großkassen entwickeln sich zu systemischen Risiken / Parallelen zum Bankensektor
Rolf Dressler

Es muß wohl in den Genen liegen: Wir Deutsche sind unangefochten Absicherungs- und Versicherungsweltmeister. Ausgelassen wird kein noch so exotisches und skurriles Phantasiegebilde auf der nach oben offenen Skala tatsächlicher oder schlicht nur eingebildeter Lebensrisiken. Dabei erklärt sich der phänomenale Dauererfolg der hiesigen Versicherungsbranche sicherlich nicht daraus, daß dort verlockend „Prämie“ heißt, was in Wahrheit ein schnöder Beitrag, eine vertraglich knallhart fixierte Bringschuld des Versicherungsnehmers ist.

Ein Anschauungsbeispiel ist das Milliardenspiel auf dem staatlich durchwirkten und gelenkten Gesundheitsmarkt. Mit voller Kraft ringen dort Beteiligte und Nutznießer um die Riesengeldtöpfe – angeblich zum Wohle aller und des großen Ganzen. In der Praxis aber entwickelt sich der Kampf zwischen Politik, Ärztelobby, Pharmaindustrie und Krankenkassen um das Großobjekt der Begierde nicht selten zum Nachteil der Versicherten. Um das jedoch möglichst geschickt zu tarnen, beteuern die wackeren Knappen immer wieder vollmundig, wie sehr sie sich dem hehren Ziel durchgreifender Reformen verpflichtet fühlten. So gesehen geht es im Gesundheitswesen ähnlich zu wie auf einer anderen beliebten Spielwiese alter und neuer Sozialisten und Zentralisten: in der Bildungs- und Schulpolitik. Selbst die angestammt bürgerlichen Parteien sind längst infiziert. Auch bei ihnen grassiert die Reformitis, geradezu zwanghaft.

Und wie nun verhält es sich mit den Krankenversicherten hier bei uns in Deutschland? Wie und von wem wird über sie entschieden? An welchen Leitlinien orientieren sich die Gesetzesmacher – außer zuvorderst an dem Zug zur großen Zahl? Es geht munter voran, allerdings auf einer Einbahnstraße, die vielen völlig zu Recht als ungewisse Sackgasse erscheint. Von 216 auf derzeit noch 163 ist die Zahl der Krankenkassen innerhalb von zwei Jahren geschrumpft.

Dramatisch und in bislang nicht gekannten Größenordnungen nutzen Hunderttausende Versicherte nach der Einführung von Zusatzbeiträgen ihr Sonderkündigungsrecht. Bereits mehr als 100.000 wechselten binnen kurzem zum Branchenführer Barmer GEK und sogar 340.000 zur Techniker Krankenkasse (TK). Auch Vereinigte IKK sowie IKK Classic und Knappschaft verzeichnen erhebliche Mitgliederzuwächse. Das bedeutet: Die Kassenlandschaft wird mächtig durchgeschüttelt und von Grund auf verändert. Als angeblich alternativlose Therapie verordnen Politik, Ärzteverbände und eben die Krankenkassen sich und der weithin ohnmächtigen Versichertenschar ein Festival von Zusammenschlüssen, eine Fusionswelle, wie es sie hierzulande noch nie gegeben hat.

Beinahe wäre in der ersten Februarwoche eine wahre Elefantenhochzeit geschlossen worden. Denn mit dann nahezu zehn Millionen Versicherten könnten sich die TK und die schon zuvor fusionierte KKH-Allianz schlagartig zum größten und einflußreichsten Krankenversicherer Deutschlands aufschwingen, sogar noch vor der Barmer GEK. Aus welchen Gründen dieser „Deal“ für wie lange und letztlich zu wessen finanziellem Vorteil auf Eis gelegt worden ist, darüber geben nicht einmal die ebenso bunten wie vagen Spekulationen Aufschluß, die seit längerem rings um TK und Allianz ins Kraut schießen – und das gewiß auch mit Blick auf diverse sonstige Übernehmer- und Übernahmekandidaten, finanzstark die einen, angeschlagen bis marode die anderen.

Und schon gar nicht können sich die 70,1 Millionen gesetzlich und die 8,8 Millionen privat Krankenversicherten einen bündigen Vers darauf machen. Eines jedenfalls steht nach aller jahrzehntelangen Erfahrung so oder so fest: Auch das Fusionskarussell, das sich künftig eher noch schneller drehen dürfte, wird die Kostenlawine auf dem Markt des notorisch kränkelnden Gesundheitswesens mit Sicherheit nicht bremsen oder gar stoppen können. Was jetzt droht, ist systembedingt, weil von der Politik so gewollt. Die gesetzlichen Beiträge wurden einheitlich „gedeckelt“ bei nun 15,6 Prozent. Deshalb sind den Versicherern die Wege zu einer externen Aufbesserung ihrer Finanzlage versperrt.

Und sogar die Erhebung von einkommensunabhängigen pauschalen Zusatzbeiträgen erweist sich als kontraproduktiv, weil unkalkulierbar viele Versicherte schon auf die bloße Ankündigung hin ruckartig mit Kündigung reagieren. Bisher konnten Krankenkassen in finanziell bedrohlicher Schieflage eine mögliche Insolvenz beim aufsichtführenden Bundesversicherungsamt ordnungsgemäß rechtzeitig anmelden. Inzwischen jedoch haben mehrere führende Kassen wie etwa die Barmer GEK eine Größe und ein Geschäftsvolumen, die es unmöglich machen, ein solches Krankenversicherungsunternehmen über ein herkömmliches Insolvenzverfahren „abzuwickeln“ oder zu sanieren, weil dessen Versicherte bzw. Mitglieder nicht ohne weiteres von anderen Kassen übernommen werden können. „Systemrelevant“ heißt das heutzutage im Bankensektor.

Branchenkenner warnen schon vor den offensichtlichen Parallelen zum Bankenkrisensystem. Denn nirgendwo sonst, so Hans Unterhuber, Chef der Siemens-Betriebskrankenkasse, gebe es derzeit so viele (Not-)Fusionen wie bei den gesetzlichen Krankenkassen. Wenn Politiker aber beharrlich verkündeten, daß einige wenige Krankenversicherungen künftighin vollauf genügten und Fusionen daher angeblich der allein richtige Ausweg seien, dann hätten sie „nicht die dringend nötigen Lehren aus der jüngsten schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gezogen“.

Foto: Trend zu immer größeren Krankenkassenfusionen: Keine Lehren aus der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise gezogen?

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen