© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/11 18. Februar 2011

Barmherzige Radikalkur
Wirtschaftsliteratur: Libertäre Plädoyers für die Entpolitisierung der Gesundheitsversorgung und gegen die staatliche Industrialisierung der Medizin
Christian Dorn

Die aktuellen Meldungen aus dem Gesundheitssystem scheinen Symptome dafür zu sein, daß es „nicht in einzelnen Details fehlerhaft“ ist, „sondern in seinen grundlegenden Strukturprinzipien“, wie der libertäre Rechtsanwalt Carlos Gebauer formuliert, der einem breiteren Publikum durch seine Mitwirkung an der RTL-Reihe „Das Strafgericht“ bekannt ist. Der Grund dafür sei der staatliche Ein- oder besser Zugriff: Gesetzliche, administrative und behördliche Maßnahmen, die den Grenzbereich von individuellem Leben einer- und allgemeinen öffentlichen Interessen andererseits zu regeln versuchen, verhinderten a priori die Effizienz der tatsächlich benötigten medizinischen Versorgungsmaßnahmen, so Gebauer.

Damit verknüpft seien ungeklärte rechtsethische Fragen. Schließlich verkörpere das System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) überhaupt keine klassische Versicherung, sondern bloß „eine weitere lohn- und einkommensabhängige Sondersteuer“. Überdies befördere es einen Prozeß, der Grundrechte wie das der zivilrechtlichen Vertragsfreiheit ausheble. Nebenher zeigt Gebauer auf, daß es dem System inhärent sei, eine nicht endende Kette von Kontrollbehörden zu produzieren: Den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), den Gemeinsamen Bundesausschuß (GemBA) oder das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (InQualWiG), welches wiederum externe Sachverständige beauftragt und dessen Finanzierungsbedarf der GemBA autonom festlegen darf – „finanziert durch Zuschläge zu jedem Krankenhausaufenthalt sowie durch die gezielte Verteuerung vertrags(zahn)ärztlicher Leistungen“.

Als geradezu ein Menetekel betrachtet Gebauer daher auch das Fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V), laut dessen Prämisse die GKV-Kassen verantwortlich seien für die Gesundheit des Versicherten. Dadurch werde dieser jedoch „entmündigt“. Ob dies ein „Gesundheits-Affront“ ist, wie der Buchtitel nahelegt, ist eine Definitionsfrage. Keine Frage dagegen ist, daß der bürokratische Dschungel mit dem alltäglichen Gebrauch von Sprachmonstren wie „Gesundheitsreform“ beginnt. Entsprechend fragt Gebauer lakonisch: „Läßt sich Gesundheit überhaupt reformieren?“ Beinahe gesetzmäßig, so sein Fazit, käme mit jeder neuen Regierung mindestens eine neue „Gesundheitsreform-Reform“, durch die kaum etwas besser, aber vieles schlechter und teurer werde. Beispielhaft hierfür ist das vom Autor angeführte Klempner-Beispiel: „Angenommen, bei Ihnen zu Hause hätte im Jahre 1975 (dem Zeitpunkt der letzten wirklich grundlegenden Reform im Gesundheitswesen) ein Wasserhahn das Tropfen begonnen; wie lange (und wie oft) hätten Sie wohl die – nach mehrfach scheiternden Reparaturversuchen – augenscheinlich abdichtungsunfähigen Klempner immer ein und derselben Firma wieder bestellt (und bezahlt)? Einen Monat? Ein Jahr? Fünf? Zehn, zwanzig, dreißig Jahre?“

Fragwürdige Vergleiche nicht scheuend, versucht Gebauer denn auch die Zwangskollektivierung im GKV-System mit dem Beispiel eines Edeka-Marktes zu verdeutlichen, dessen Leiter eines Tages beschließt, den Aufwand der Kassiererinnen einzusparen. Statt dessen zahlen die Kunden bei Eintritt des Marktes nur noch eine Pauschale nach dem Maßstab der eigenen persönlichen Leistungsfähigkeit und bedienen sich anschließend nach Belieben. Daß dieses Modell nicht funktionieren kann, dürfte jedem klar sein.

In seinem Text „Lenin und der Kassenarzt“ zeigt Gebauer amüsante Parallelen zwischen dem deutschen Sachleistungssystem in der GKV und der Idee des sowjetischen Revolutionsführers auf, das Geld abzuschaffen und alle Güter nur noch einzusammeln und neu zu verteilen. Als Alternative plädiert Gebauer für die menschheitsgeschichtlich bewährten sozialen Funktionstechniken des Tausches und der Barmherzigkeit. Daß Gebauers Vorschläge keine Utopien sind, beweisen jene bayrischen Kassenärzte, die Ende 2010 mit einem solidarischen GKV-Zulassungsverzicht drohten – genau so, wie Gebauer es in einer seiner hier abgedruckten Reden zur Gesundheitspolitik empfiehlt.

Carlos Gebauer: Der Gesundheitsaffront. Lichtschlag-Verlag, Grevenbroich 2010, 189 Seiten, gebunden, 19,90 Euro.

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