© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/11 18. Februar 2011

Gallische Rhythmen
Ballett: Zur Erinnerung an Léo Delibes
Wiebke Dethlefs

Nach „Schwanensee“ und „Der Nußknacker“ von Peter Tschaikowsky sind zweifellos die Ballette „Coppelia“ und „Sylvia“ von Léo Delibes die meistgespielten ihrer Gattung. Doch ist der am 21. Februar 1836 geborene Komponist dabei stark im Hintergrund geblieben; einige mögen noch seine bedeutendste Oper „Lakmé“ (1883) kennen, die über alle Bühnen der Welt ging, in Deutschland jedoch nahezu unbekannt geblieben ist – vielleicht wegen ihres exotischen Sujets und des ungewöhnlichen komisch-lyrischen Charakters. Aus ihr ist die „Glöckchenarie“ seit über hundert Jahren zumindest in Frankreich ein Paradestück der Koloratursopranistinnen. Hierzulande wird nur das Blumenduett mit seiner terzen- und sextenseligen Sinnlichkeit viel gespielt (unvergleichlich Elīna Garança zusammen mit Anna Netrebko).

Delibes musikgeschichtliche Bedeutung ruht in erster Linie auf seinen Balletten. Das erste, „La Source“ (manchmal auch „Naila“ genannt) ist ein Gemeinschaftswerk mit León Minkus und von geringerer Popularität, doch „Coppelia“ (1870) (nach E.T.A.  Hoffmanns „Sandmann“) und „Sylvia“ (1876), nach Torquato Tassos Schäferspiel „Aminta“, gehören zum Standardrepertoire des klassischen Balletts.

Delibes ist ein Reformator der Ballettmusik. Das französische Ballett war bis etwa 1850 zu einer rein unterhaltenden Tanzabfolge abgesunken, vielleicht mit Ausnahme der Werke von Adolphe Adam, der in seiner „Giselle“ (1841) im Ansatz begann, diesen Niedergang abzuwenden. Delibes, der Schüler Adams war, versuchte, die Gattung neu zu formen und im Ballett ein Drama ohne Text zu schaffen, weitab von jeder äußerlichen Tanzillustration. Dies zwang ihn zu intensiver symphonischer Durcharbeitung, wobei ihm sein empfindlicher Klangsinn und eine unerschöpfliche melodische Erfindungsgabe halfen, den Charakter eines populären eingängigen Tanzstücks zu bewahren. In seiner Tonsprache fällt, ähnlich wie bei Bizet, die Neigung zu ungewohnten Modulationen und prickelnden, „kecken“, „gallischen“ Rhythmen auf.

Die Meisterschaft Delibes’ braucht den Vergleich mit Tschaikowskys spritzig leichtem Ton salonhafter Konversation nicht zu scheuen. Dieser bekannte, nachdem er „Sylvia“ 1877 kennengelernt hatte, voller Scham: „Hätte ich diese Musik vorher gekannt, hätte ich ‘Schwanensee’ nie geschrieben.“ „Dornröschen“ und „Der Nußknacker“ sind ohne das Vorbild Delibes kaum denkbar. Léo Delibes starb 54jährig am 16. Januar 1891 in Paris. Eine Tanzoper auf ein slawisches Sujet „Kassya“ hinterließ er unvollendet.

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