© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/11 18. Februar 2011

Die Mittelschicht steigt ab
Arte-Themenabend: Deutsch-französischer Blickwinkel auf eine vom Aussterben bedrohte Spezies
Klaus Peter Krause

Die Mittelschicht arbeitet fleißig, ist tüchtig, will vorankommen. Sie trägt die Wirtschaft, ist nicht rebellisch, der Staat kann sich auf sie verlassen. Doch seit einigen Jahren gärt es in ihr. Sie hat Sorgen, und die Sorgen nehmen zu. Die Lebenshaltung ist schwerer zu finanzieren, die gestiegene Steuer- und Abgabenlast drückt immer mehr. Sie spürt, daß sie an Boden verliert. Was einst sicher schien, ist es nicht mehr. Ältere Angestellte verlieren ihren Arbeitsplatz, viele bangen um ihn, junge Leute  finden keinen. Die Mittelschicht bröckelt ab. Angst breitet sich aus, Angst vor dem sozialen Abstieg. Arte widmet sich diesem Topos mit gleich zwei Reportagen an einem Abend.

Der Reportage-Film „Angst vor dem sozialen Abstieg“ pendelt zwischen Eindrücken aus Frankreich und Deutschland hin und her. Die Stimme aus dem Off sagt: „Drei von vier Franzosen sorgen sich um ihre Zukunft. In Deutschland fürchtet jeder Dritte den sozialen Abstieg. In den vergangenen zehn Jahren ist in Deutschland die Mittelschicht von 64 auf 58 Prozent geschrumpft. Fast fünf Millionen Menschen stiegen in die unteren Randzonen der Gesellschaft ab.“

In Frankreich verliere die Mittelschicht ebenfalls das Vertrauen in die Zukunft. Ihre Probleme seien vielfältig. Unbezahlbare Wohnungen, Sparmaßnahmen, fehlende Perspektiven für Kinder,  die Angst steigere sich, ebenso die Wut.

Der Film stellt Beispiele vor: ein Hamburger Traditionsunternehmen für Klima- und Lüftungsanlagen, das Insolvenz angemeldet hat und immer noch mehr Beschäftigte entlassen muß, ein französisches Ehepaar (er ehemals Manager in der Luftfahrt, sie Bankangestellte, ein Kind), das Arbeitslosigkeit bis vor zwei Jahren nur von anderen kannte. Dazu eine Hamburger Kunsthändlerin, die ihr Geschäft aufgeben muß, das ihre Familie seit drei Generationen betrieben hat und die zuvor gut davon leben konnte. Schließlich eine Hamburger Familie (er Bauingenieur, sie Betriebswirtin, halbtags arbeitend, zwei Kinder, Eigenheim), die über Steuerlast und Kita-Gebühren stöhnt und Angst hat, sozial abzusteigen, und keine Hoffnung, weiter aufzusteigen. Der Film läßt die vom Schicksal Getroffenen reden und macht damit anschaulich, wie es auf die Menschen wirkt, was mit ihnen geschieht.

Auch wenn das Phänomen nicht neu ist, so vermittelt der Film doch zusätzliche Eindrücke von der Lage. Nur eins bleibt er schuldig: eine Antwort auf die Frage, was die Ursachen für diese Entwicklung sind. Die sind vielfältig und kompliziert. Das kann so eine  Reportage schwerlich leisten und wollte es wohl auch nicht.

Zur Angst vor dem Abstieg gesellt sich die Erscheinung, daß sich die Mittelschicht isoliert – ebenfalls aus Angst. Geschildert wird sie in der Reportage „Geschlossene Gesellschaft“. Diese Angst äußert sich im Bestreben, sich von der Unterschicht abzugrenzen. Immer mehr ziehen ihre Kinder aus den staatlichen Schulen ab, um sie vor dem (auch gewalttätigen) sozialen Milieu der Unterschichtkinder zu bewahren, und nehmen das Schulgeld für Privatschulen in Kauf. Der soziale Klassenkampf wird heute in den Schulen ausgetragen.

Gute Schulbildung soll den Kindern Erfolg und Status sichern. In Frankreich ist diese Abgrenzung weiter fortgeschritten als bei uns. Immer mehr Mittelschichtfamilien ziehen sich in abgeschirmte Wohnanlagen zurück; sie möchten Sicherheit. Das Vertrauen in die Politik, in die Führung, in die staatlichen Systeme schwinde bei ihm dramatisch, sagt ein Familienvater.

Diese Eltern  sind gegen einen Staat, von dem sie sich nicht mehr vertreten fühlen und gegen den sie nun opponieren. Eine Hamburger Journalistin sagt: „Die Mittelschicht hat eine immense Verachtung für den Staat und würde ihn am liebsten loswerden.“ Der Film schildert die Entwicklung sachlich und ohne aufgeregten Alarmismus. Doch die politische Führung sollte durchaus alarmiert sein. Natürlich weiß sie davon. Aber was tut sie?

„Mittelschicht – Angst vor dem sozialen Abstieg“ und „Geschlossene Gesellschaft – Rückzug ins Private“ werden am Dienstag, den 22. Februar, um 20.15 Uhr bzw. 21 Uhr auf Arte gesendet.

Foto: Rolltreppe nach unten: Viele Familien in Deutschland und Frankreich haben das Gefühl, es ginge permanent abwärts – auch ohne ihr Zutun

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