© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/11 18. Februar 2011

Die völlige Verdrängung des Deutschen
Ein Elsässer hat eine beachtenswerte Geschichte seiner Region im Ringen zwischen Deutschland und Frankreich veröffentlicht
Martin Schmidt

Bernard Wittmanns Buch „Die Geschichte des Elsaß. Eine Innenansicht“ erschien erst zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung in französischer Sprache auch auf deutsch, nämlich vor etwa einem Jahr im Morstadt-Verlag in Kehl. Das ist symptomatisch, denn es zeigt, wie weit die Entfremdung der Region zwischen Rhein und Vogesen von ihrem deutschen Kulturerbe bereits vorangeschritten ist, aber auch wie wenig Interesse es im binnendeutschen Raum für das verlorene Grenzland im Westen gibt.

Dabei bietet diese Darstellung insbesondere der Zeit ab 1870 reichlich Stoff für eine authentische Sicht auf den zwischen Frankreich und Deutschland hin  und her gerissenen, spätestens seit 1945 in seinem Selbstbewußtsein nachhaltig erschütterten Landstrich. Der Verfasser erweist sich als ebenso stolzer wie mutiger Elsässer, der den zahlreichen französischen Geschichtslegenden seine sicherlich nicht unvoreingenommene, aber dennoch sachliche und vor allem gut lesbare Perspektive entgegensetzt.

Wittmann schöpft aus seinen Erfahrungen als einer der wichtigsten sogenannten „Autonomisten“. Er rief 1975 deren erfolgreichste Zeitschrift Rot un wiss ins Leben, betreute diese lange als Schriftleiter und trat 1988 auch als Mitbegründer der „Elsässischen Volksunion“ (UPA) hervor. Seine Kenntnisse der historischen Zusammenhänge sind profund und das Urteil streng. Vor allem über die expansive Politik Frankreichs. Der mit der Französischen Revolution beginnende „Kampf gegen die deutsche Sprache im Elsaß“ sei eine „Leiche im Keller der deutsch-französischen Beziehungen“, betont Wittmann und schreibt zur heutigen Situation: „Das Deutsche wird auf allen Gebieten des kulturellen Lebens und der Kreativität ignoriert: in Zeitungen, Theater, Gesang, Kino, Verlagen, selbst bis zu den Bibliotheken hin.“

Ende des 18. Jahrhunderts sprachen ganze ein Prozent der Elsässer französisch, mittlerweile ist es für die Masse der regionalen Bevölkerung die faktische Muttersprache. Fast immer sind es nur noch die Alten, die im Alltag ihre angestammten fränkischen bzw. alemannischen Dialekte verwenden, während das staatliche Bildungssystem für das Schuljahr 2007/08 lediglich 110 zweisprachige Einrichtungen im ganzen Elsaß verzeichnete, was nicht einmal der Anzahl der 114 Straßburger Schulen entspricht. 92 Prozent der Schüler erhalten keinerlei bilingualen Schulunterricht, und an den weiterführenden Schulen waren es zu dieser Zeit ganze 2.881 Schüler, die zweisprachig erzogen wurden.

Die Voraussetzungen für diesen tiefen Bruch in dem kulturell weitgehend deutsch geprägten Land wurden früh geschaffen. Ab 1820 durfte an den höheren Schulen sowie an der Universität Straßburg nur noch die Sprache der „Grande Nation“ gelehrt werden. Während das zweite deutsche Kaiserreich nach der Rückgewinnung des Elsasses und Ost-Lothringens 1870/71 auf Zwangsausweisungen französisch gesinnter Bürger verzichtet hatte, mußten im Gefolge der „ethnischen Säuberungen“ von 1918 bis 1920 zwischen 150.000 und 200.000 zugezogene Reichsdeutsche und alteingesessene Elsässer außer Landes gehen, darunter ein Viertel der evangelischen Pfarrer – die evangelische Kirche galt noch bis vor wenigen Jahrzehnten als wichtiger Träger der deutschen Sprache. Die Herrschaft Kaiser Wilhelm I., die Wittmann als beginnendes „goldenes Zeitalter für das Elsaß“ bezeichnet, brachte zwar im Zuge der sofort eingeführten allgemeinen Schulpflicht eine gezielte Förderung des Hochdeutschen, ließ aber in einigen französischsprachigen Vogesentälern und in Teilen Ost-Lothringens das Französische weiterhin als erste Unterrichtssprache gelten.

Viele bis heute gängige Vorstellungen über das Wirken der neuen reichsdeutschen Beamtenschaft werden als französische Propagandaklischees entlarvt. So war der erste Statthalter General Edwin Freiherr von Manteuffel (1879–1885) sehr kultiviert, zeichnete sich durch ein ausgezeichnetes Französisch aus und nahm viele Rücksichten auf die Interessen der frankophilen elsässischen Oberschicht. Auch sein Nachfolger, der bayerische Prinz Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, betrieb eine auf Ausgleich bedachte Politik, sah sich aber immer wieder durch die massive französische Unterstützung von Separationsbestrebungen zu Gegenmaßnahmen veranlaßt. Dennoch spricht Wittmann auch für diese Zeit von einer „hervorragenden Verwaltungsarbeit“ des Reiches, die Prinz Hohenlohe-Schillingsfürst die Berufung zum Reichskanzler durch Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1894 eintrug. Auch die nachfolgenden Statthalter liefern in den Augen des Autors keinen Anlaß, das grundsätzlich positive Gesamturteil zu berichtigen.

Im Gegenteil. Einerseits flossen „mit dem Wissen der deutschen Behörden, die nichts dagegen unternahmen, enorme Propagandagelder von Frankreich ins Elsaß“ und die revanchistische frankophile städtische Intelligenz instrumentalisierte die zeitgenössischen rassenpolitischen Vorstellungen Arthur de Gobineaus oder Ernest Renans zur Rechtfertigung der Überlegenheit des „lateinischen Menschen“ gegenüber dem „germanischen Barbaren“. Andererseits führte die deutsche föderalistische Tradition und die bis zur vollen Erlangung der Rechtssouveränität als 25. Bundesstaat des Deutschen Reiches im Oktober 1918 stetig wachsende Entfremdung vom Pariser Zentralismus zu einem neuartigen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Selbstbewußtsein.

Die Koalition der Frankophilen im „Elsaß-Lothringischen Nationalbund“ kam folgerichtig bei den ersten Wahlen zur Zweiten Kammer des von Berlin neu eingesetzten Landtags im Oktober 1911 auf ganze 3,2 Prozent Zustimmung. Damals wurde diesen Kreisen bewußt, so Wittmann, „daß nur ein Krieg den endgültigen Verlust des Volkes, das, stolz auf seinen Wohlstand, sich definitiv ins Deutsche Reich eingliedern wollte, verhindern konnte“.

Allerdings wäre der gesellschaftspolitisch eher linksstehende Verfasser kein Autonomist, wenn er nicht auch die Fehler deutscher Politik im Elsaß beim Namen nennen würde. Ganz besonders gilt das für die „unglaubliche Brutalität“ und den „rassistischen Wahn“ der „braunen Jakobiner“ des Dritten Reiches. Die Liste der Schandtaten ist lang: blindwütige Denkmalszerstörungen nach dem Einzug der deutschen Truppen, verwaltungstechnische Tilgung des Elsaß durch die Bildung des Gaues Oberrhein, Ausweisungen bzw. Verfolgung Andersdenkender, Frankophiler und Juden, rigide Sprachpolitik selbst in den traditionell frankophonen Vogesentälern, demonstrative Verbrennungen französischer Bücher, Zwangsrekrutierungen in Wehrmacht und Waffen-SS, Einrichtung der Konzentrationslager Struthof und Schirmeck usw.

All das wird von Wittmann drastisch angeklagt, aber auch nicht als Rechtfertigung für das anschließende Unrecht der „blauen Jakobiner“ gelten gelassen. In dem Kapitel „1945–1947: die Epuration“ präsentiert er die erschütternden Tatsachen: Rund 45.000 Elsässer und Lothringer wurden nach der Niederlage Deutschlands in Lagern eingesperrt (manche von ihnen im vorherigen nationalsozialistischen KZ Struthof), viele Autonomisten – darunter zweifelsfreie Gegner der „Kollaboration“ wie Joseph Rossé – in Schauprozessen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und vor allem der antideutsche „Ausverkauf der elsässischen Identität“ radikal beschleunigt.

Eine der Stärken des ungemein detailfreudigen, leider jedoch nur spärlich bebilderten Buches liegt in der fairen Darstellung der elsässisch-lothringischen Heimatrechtsbewegung der Zwischenkriegszeit. In dem Kapitel „1918–1940: Rückkehr zu Frankreich oder der Kampf um die Autonomie geht weiter“ thematisiert es den Einfluß von Karl Roos als Kopf des 1926 gegründeten Heimatbundes (Roos wurde 1940 als angeblicher deutscher Spion bei Nancy erschossen), das Wirken von Paul Schall als Redakteur der Zeitschrift Die Zukunft. Für Heimat, Recht und Frieden, die jugendbewegten Ideen Friedrich Spiesers mit seinem „Erwinsbund“ und dessen Domizil in der Hünenburg sowie die verschiedenen Flügel der Autonomisten – von der „Jungmannschaft“ Hermann Bicklers bis zu den Katholiken um Joseph Rossé und Marcel Stürmel. Obwohl letztere die einzigen führenden Autonomisten waren, die nach dem raschen Sieg Deutschlands über Frankreich 1940 die Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern verweigerten, lehnt Wittmann die diffamierende These von der ideologischen Verwandtschaft zwischen Nationalsozialisten und Autonomisten entschieden ab.

Die Ausführungen über die Nachkriegsjahrzehnte beschönigen nichts, ohne in Melancholie und Perspektivlosigkeit zu münden, wie es unter elsässischen Autonomisten verständlicherweise  häufig der Fall ist. Während sich noch 1953 etwa achtzig Prozent der Elsässer für deutschsprachigen Schulunterricht aussprachen, läßt die französische Verwaltung das Deutsche durch Propaganda und Zwangsmaßnahmen nicht nur aus dem Bildungssektor, sondern aus dem gesamten öffentlichen Leben verbannen. Mit Erfolg. Lediglich die kleine Partei der Elsässischen Volksunion sowie eine Minderheit von Aktivisten aus Organisationen wie dem René-Schickele-Kreis und dem für Zweisprachigkeit streitenden Verein ABCM oder von Zeitschriften wie Voix d‘ Alsace, Elsa und Rot un wiss leisten Widerstand.

Dennoch bleibt ein Rest von Hoffnung, wie er sich in Wittmanns Schlußkapitel etwa in folgender Bilanz widerspiegelt: „Heute würde die Einführung einer schulischen Zweisprachigkeit, selbst wenn es im ganzen Elsaß geschähe, nicht mehr genügen. Die Regionalsprache müßte wieder, so wie es viele Jahrhunderte war, zum sozialen Band, zum aktiven Bestandteil einer lebendigen Kultur werden und vor allem einen offiziellen Status erhalten. Dazu sind zwei Voraussetzungen notwendig: erstens der aufrichtige politische Wille des französischen Staates und zweitens müßte durch das elsässische Volk ein Ruck gehen. (...) Dieses Bewußtsein scheint begonnen zu haben, was das zunehmende Interesse für dieses Thema zeigt.“

Bernard Wittmann: Die Geschichte des Elsaß. Eine Innenansicht. Morstadt Verlag, Kehl 2010, gebunden, 395 Seiten, Abbildungen, 34,90 Euro

Foto: Straßburger Münster: Heute besteht wenig Interesse im binnendeutschen Raum für das verlorene Grenzland im Westen, das innerhalb von ein paar Generationen zu großen Teilen frankonisiert wurde

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