© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/11 18. Februar 2011

Reformitis als Déjà-vu
Gérard Bökenkamp analysiert dreißig Jahre Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik
Alexander Bagus

Rentenreform, Steuerreform, Gesundheitsreform, das sind Schlagworte aus der Zeit von 1969 bis 1998, bei deren näherer Betrachtung sich die Vorstellung von einer „Reformrepublik Deutschland“ förmlich aufdrängt. Jedoch wandelte sich über die Jahrzehnte die Konnotation: Bedeutete Reform unter der sozialliberalen Koalition noch „die Verbesserung der Gesellschaft durch die Ausweitung staatlicher Leistung und aktive Eingriffe des Staates“, so beinhaltete sie unter Helmut Kohl die Rücknahme dieser Maßnahmen.

Dies schildert der Historiker Gérard Bökenkamp in seiner Dissertation „Das Ende des Wirtschaftswunders“. In dieser läßt er die Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik von 1969 bis 1998 Revue passieren. Letztendlich handelt es sich bei diesen Politikfeldern und ihrer Finanzierung um das alltägliche Geschäft jeder Bundesregierung, die jedoch gegenüber großen Ereignissen oder außenpolitischen Krisen in der Erinnerung der Zeitgenossen zurücktreten, wie Bökenkamp schon einleitend bemängelt.

Anhand von dreißig Jahrgängen Spiegel, Zeit und Wirtschaftswoche werden alle Debatten, Positionen sowie die Protagonisten ins Feld geführt und die Zusammenhänge von Staatsverschuldung, Massenarbeitslosigkeit und überlastetem Sozialversicherungssystem verdeutlicht. Dabei räumt Bökenkamp, regelmäßiger Autor von Eigentümlich frei, auch mit einigen Mythen auf. So ist Helmut Schmidt nach dieser Darstellung nicht der „Weltökonom“, als der er sich schon als Kanzler, aber noch mehr als „Elder Statesman“, gerne in Szene setzte. Vielmehr wird Schmidts Unkenntnis von Zusammenhängen in der Währungs- und Geldpolitik deutlich hervorgehoben. Man muß wohl diesen Kanzler, der Staatsschulden und Inflation nicht für entscheidende Problemfelder erachtete, eher als einen der Urheber der Fortentwicklung der Defizitpolitik und der daraus entspringenden strukturellen Probleme ansehen. Das Bild des „Krisenmanagers“ muß vor diesem Hintergrund neu gezeichnet werden.

Die Fehlannahmen, Beschönigungen und Fehlentscheidungen während des Wiedervereinigungsprozesses, wie die viel zu optimistischen Analysen zur Produktivität und Beschaffenheit der DDR-Wirtschaftsbetriebe und der Stufentarifvertrag, werden schonungslos aufgeführt. Letzteren erachtet Bökenkamp sogar als schwerwiegender in den Auswirkungen als die Währungsunion 1990, da die damit erzeugten Spannungen zwischen Produktivität und Arbeitskosten ein wesentliches Fundament der Massenarbeitslosigkeit in den neuen Ländern bildeten. Das „Rückgabeverbot“ der in der SBZ zwischen 1945 und 1949 enteigneten Güter, das die Sowjetunion im Zuge der Wiedervereinigungsverhandlungen aufgestellt habe, hält der Autor für „mehr als zweifelhaft“, obschon diese Schutzbehauptung von Kohl und Schäuble durch viele Aussagen – selbst von Gorbatschow – als widerlegt gilt.

Bezeichnend ist in Bökenkamps Analyse, wie sich die Debatten bis heute wiederholen, sei es nun über die Konsolidierung des Haushalts, Steuerreformen und -erleichterungen oder familienpolitische Maßnahmen aufgrund der demographischen Entwicklung. Die Probleme der Bundesrepublik scheinen sich demnach in den letzten Jahrzehnten kaum verändert zu haben – genausowenig wie die Konzepte zu ihrer Lösung. Wie wenig finanzpolitische Instrumente zum Beispiel die Geburtenrate beeinflussen, zeigte nicht erst Ursula von der Leyens Elternjahr, sondern dokumentieren bereits einschlägige Reformen aus den achtziger Jahren.

Am Ende der Monographie steht die skeptische, offene Frage Bökenkamps, ob in der entscheidenden Situation eine Sanierung aufgrund des vielfältigen Widerstandes scheitern muß oder doch die Einsicht in die Notwendigkeit die Oberhand gewinnt. Wer die über 500 Seiten zuvor gelesen hat, wird von der letzteren Möglichkeit nicht wirklich überzeugt sein.

Gérard Bökenkamp: Das Ende des Wirtschaftswunders. Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969 bis 1998. Lucius & Lucius Verlag, Stuttgart 2010, gefunden, 569 Seiten, 59 Euro

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