© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/11 25. Februar 2011

„Wie funktioniert der Islam?“
Diese Frage stellte sich Manfred Kleine-Hartlage. Erstmals seziert ein Sozialwissenschaftler die Tiefenstruktur der islamischen Kultur.
Moritz Schwarz

Herr Kleine-Hartlage, wie funktioniert der Islam?

Kleine-Hartlage: Er ist ein umfassendes, alle Lebensbereiche regelndes System. Es gibt keine Trennung zwischen der Religion hier, der Politik da, dem Recht dort – deshalb auch keine zwischen Islam und Islamismus. Der Islamismus ist kein Mißbrauch des Islam, denn der Islam funktioniert anders.

Konkret?

Kleine-Hartlage: Es ist doch auffällig, daß es in der islamischen Welt bis heute nie zu Glaubenskrisen gekommen ist, wie wir sie bei uns in Europa kennen, und daß es dort so gut wie keine Atheisten gibt. Der Grund dafür ist, daß die Rolle der Religion im Gefüge islamischer Gesellschaften eine ganz andere ist als die des Christentums bei uns: Der Islam setzt den Menschen nicht nur, wie alle Religionen es tun, in Beziehung zum Jenseits und legt fest, was gut und Böse ist, sondern er definiert auch, was im legalen Sinne Recht und Unrecht, im politischen Sinne legitim und illegitim, im empirischen Sinne wahr und unwahr ist. Der Islam ist also sozusagen die DNS seiner Gesellschaften: nicht nur eine Religion, sondern ein soziales System.

Man kann also den Islam nicht abschaffen, ohne den Zusammenbruch der Gesellschaft zu riskieren?

Kleine-Hartlage: So ist es, das islamische Normen- und Wertesystem regelt das Zusammenleben in muslimischen Gesellschaften weit über den im engeren Sinne religiösen Bereich hinaus; ohne den Islam könnten sie gar nicht funktionieren. Und das ist es, was ihn so stabil und so erfolgreich macht.

Sie sind allerdings kein Islam-, sondern Sozialwissenschaftler.

Kleine-Hartlage: Das stimmt, aber soziologische Analysen zeichnen sich generell durch eine bestimmte Herangehensweise aus, die sich von denen der jeweiligen Fachdisziplinen unterscheidet. Sie müssen kein Ökonom sein, um Wirtschaftssoziologie zu treiben, und kein Jurist für die Rechtssoziologie. Und eben kein Islamwissenschaftler, um die Soziologie des Islam zu analysieren.

Sie sagen, daß wir den Islam gar nicht verstehen. Warum?

Kleine-Hartlage: Weil wir in Begriffen denken, die ihm nicht entsprechen. Wir verwenden eine Sprache, die zur Beschreibung unserer eigenen Kultur, nicht aber zu der des Islam taugt. Die Beschäftigung mit dem Islam macht die unbewußten Prämissen des eigenen Denkens bewußt, weil diese Prämissen im Islam eben nicht geteilt werden. Er hält uns gewissermaßen den Spiegel vor. Auch daher war es für mich so spannend, den Islam mit dem Handwerkszeug des Sozialwissenschaftlers zu untersuchen.

Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Kleine-Hartlage: Religionen prägen das System der kulturell gültigen und sozialisatorisch verinnerlichten Vor-Annahmen über Fragen wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Moral, Ethik, Gesellschaft oder Gewalt. Also alle Annahmen, die dem eigentlichen politischen Denken vorausgehen. Im Islam gehört zu diesen Selbstverständlichkeiten sein allumfassender Geltungsanspruch. Gewiß wird dieses islamische Normen- und Wertesystem nicht von jedem gleich tief verinnerlicht, aber es prägt die wechselseitigen Erwartungen der Menschen und muß deshalb auch von solchen Muslimen berücksichtigt werden, die persönlich nicht so fromm sind. Wobei ein „weniger frommer“ Muslim in der Regel immer noch gläubiger ist als mancher Namenschrist.

Was folgt daraus?

Kleine-Hartlage: Daß die hierzulande weitverbreitete Prämisse, unter der wir den Islam wahrnehmen – nämlich alle Religionen seien gleich –, in die Irre führt. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel nennen: Der Islam kennt etwa keine grundsätzliche Ächtung von Gewalt. Er ist ein Rechtssystem, er regelt die Gewalt. Christliche Kulturen mit ihrer prinzipiellen Ächtung von Gewalt tendieren zur Eliminierung privater Gewalt und sind auf den Staat und sein Gewaltmonopol angewiesen, islamische nicht. Im Gegenteil: Gewalt hat Prestigewert.

Warum?

Kleine-Hartlage: Weil der Prophet es vorgemacht und im Koran verewigt hat, daß die Fähigkeit zur Gewaltanwendung ein Zeichen göttlicher Erwählung ist, ähnlich wie der materielle Reichtum im Calvinismus. Gewalt hat im Islam eine strukturierende Funktion: Sie unterscheidet Oben und Unten, also Herr und Knecht, Mann und Frau, Gläubige und Ungläubige. Der Islam versteht Frieden auch nicht als universelles Prinzip.

Sondern? Immerhin bedeutet Islam übersetzt ja „Frieden“.

Kleine-Hartlage: Nein, Islam heißt freundlich übersetzt „Hingabe“ und weniger freundlich „Unterwerfung“. Das Wort ist aus derselben Wurzel gebildet wie „Salam“ (Friede), aber ein Synonym ist es nicht. Die islamische Gesellschaftsauffassung basiert auf der Aufteilung der Menschheit in „Gläubige“ und „Ungläubige“ – und er läßt keinen Zweifel daran, daß die „Ungläubigen“ über kurz oder lang historisch zu verschwinden haben. „Gut“ im ethischen Sinne ist, was der Ausbreitung des Islam frommt, „böse“, was diese behindert. Die Vorstellung einer universellen Ethik, nach der alle Menschen die gleichen Rechte haben, egal welcher Religion sie angehören, oder Friede als ein Prinzip lehnt der Islam nicht nur ab, sondern dies widerspricht sogar seiner Grundstruktur.

Dennoch sind die meisten Muslime friedfertig und keineswegs gewalttätig.

Kleine-Hartlage: Das ist richtig, ist aber nicht der springende Punkt. Erstens etabliert der Islam ein System kultureller Selbstverständlichkeiten, das ganz von allein dafür sorgt, daß im Konfliktfall stets genügend „Extremisten“ und Gewalttäter bereitstehen. Es kommt nicht darauf an, daß es Massen sind, sondern daß ihre Zahl ausreicht, eine allgegenwärtige Bedrohung zu erzeugen. Und zweitens erzeugt es eine stillschweigende soziale Billigung von Gewalt, sofern sie gegen die „Ungläubigen“ gerichtet ist, auch unter solchen Muslimen, die persönlich nicht gewalttätig sind. Erst diese Billigung macht die Gewalt zu einer jederzeit möglichen Option – und damit für alle „Ungläubigen“ zu einer ständigen Bedrohung, die Nachgiebigkeit zumindest nahelegt.

Ihr Buch trägt den Titel „Das Dschihadsystem“. Warum subsumieren Sie den Islam unter diesem Begriff, schließlich ist der Heilige Krieg nur ein Aspekt des Koran?

Kleine-Hartlage: Der Dschihad ist ja nicht einfach Krieg. Er umfaßt alles, was Muslime tun, um die Welt unter das Gesetz Allahs zu bringen. Alle islamischen Normen, nicht nur die kriegerischen, haben den gemeinsamen Fluchtpunkt, die islamischen Gesellschaften zu konsolidieren und nichtislamische Gesellschaften zu verdrängen. Das ist die immanente Logik, der Leitgedanke, der dem islamischen Normen- und Wertesystem seine innere Kohärenz verleiht. Daher fasse ich den Islam als Dschihadsystem auf.

Der Heilige Krieg ist allerdings lediglich der „kleine Dschihad“, während der „große Dschihad“ die persönliche Vervollkommnung des Menschen als guter Muslim meint.

Kleine-Hartlage: Die Verwendung der Adjektive groß und klein legt nach unserem Verständnis nahe, daß eine sei wichtig, das andere unwichtig. Tatsächlich aber ist die Schwerpunktsetzung im Koran genau umgekehrt. Ich habe die entsprechenden Suren gezählt und statistisch ausgewertet: Der Koran beschäftigt sich spätestens in den medinensischen Suren – die im Zweifel die ausschlaggebenden sind – relativ wenig mit dem großen Dschihad, also dem Ringen um den eigenen Glauben, sehr viel dagegen mit dem Kampf gegen „Ungläubige“.

Könnte es nicht sein, daß der Aspekt des kleinen Dschihad als Folge historischer Entwicklungen zu einem eigentlich zu Unrecht dominierenden Faktor gewuchert ist?

Kleine-Hartlage: Das kann man so sehen, aber diese historische Entwicklung hat schon der Religionsstifter selbst vorangetrieben, und sie hat sich im Koran niedergeschlagen. Und das geschah auch nicht zufällig, sondern stellt eine Entwicklung dar, die logisch aus den theologischen Prämissen des Islam resultiert. Bekanntlich hat der Prophet von Anfang an den Kampf gegen die „Ungläubigen“ gefordert und selbst praktiziert: Er hat 27 Feldzüge geführt, einen jüdischen Stamm ausgerottet, mehrere andere vertrieben, Kritiker ermorden lassen. Blaise Pascal hat einmal gesagt: „Jesus ließ sich ermorden, Mohammed ließ morden.“ Und natürlich orientieren sich die Muslime nicht nur am Koran, sondern auch gerade am Beispiel des Propheten. Sagen Sie bloß nie einem Muslim, daß dieser Mann nicht der Inbegriff menschlicher Vollkommenheit gewesen wäre.

Islamismus ist also, wie Sie anfangs schon andeuteten, in erster Linie eine Form des Islam und entspringt nicht originär der Sphäre des Extremismus?

Kleine-Hartlage: Islamismus ist lediglich die politische Seite des Islam, also in der Tat keine Entartung, sondern ein Bestandteil dieser Religion. Der türkische Ministerpräsident Erdogan hat einmal völlig zu Recht gesagt, es gebe keinen radikalen und keinen gemäßigten Islam, sondern nur „den“ Islam. Die Scharia ist kein gesetztes, sondern ein direkt von Allah gegebenes Recht. Also etwas, das man nicht abändern kann, auch nicht per Mehrheitsbeschluß, sondern nur erfüllen oder brechen. Die Vorstellung eines Islam ohne Scharia ist absurd, das wäre – nicht wie Suppe ohne Salz, sondern wie Suppe ohne Wasser. Daher können Islamisten sich völlig zu Recht auf den Propheten und den Koran berufen. Und folglich sind diese Islamisten keineswegs sozial isoliert, sondern durchaus respektierte und für ihre Glaubensstärke geachtete Mitglieder der islamischen Gemeinschaft.

Ist der Islam denn eine Religion?

Kleine-Hartlage: Ja sicher, nur keine, wie wir sie uns vorstellen, nämlich eine Lehre, die vor allem auf ein Reich „nicht von dieser Welt“ abzielt. Es ist eine Religion, die sozial verwirklicht sein will und die auch davon lebt.

Könnte es aber nicht doch zu einer Aufklärung im Islam kommen und damit ein gebändigter Euro-Islam möglich sein?

Kleine-Hartlage: Erstens, ich wiederhole: Das würde die Grundlage islamischer Gesellschaften untergraben. Deshalb dieser enorme soziale Druck, der dies verhindert. Zweitens ist der Islam in gewisser Hinsicht bereits selbst eine Art „Aufklärung“, denn er hat ja versucht, alles was am Christentum paradox und dialektisch, bisweilen auch unverständlich ist, auf eine einfache Formel zu bringen: Etwa keine Dreifaltigkeit, sondern nur einen Gott und absolute Transzendenz. Keine Erbsünde, die dazu führt, daß man daran scheitern muß, sich im christlichen Sinne gut zu verhalten. Stattdessen klare Regeln, wie man sich gottgefällig verhält und wie nicht. In gewisser Hinsicht ist der Islam eine sehr rationalistische Religion und insofern besteht unter Umständen gar nicht das Bedürfnis nach „Aufklärung“.

Wäre nicht wenigstens zuzubilligen, daß es im Islam zu einer politisch mäßigenden Reformation kommen könnte?

Kleine-Hartlage: Erstens, war denn die Reformation bei uns so mäßigend? Zweitens, es hat Reformationen im Islam gegeben, die genau wie bei uns den Anspruch erhoben haben, ein „Zurück zu den Wurzeln“ zu sein. Während aber im Christentum dieses Zurück bedeutete, das Innerliche, den Glauben, die Gnade Gottes zu betonen, heißt im Islam ein „Zurück zu den Wurzeln“ das genaue Gegenteil, also die Betonung der Geltung des politischen Modells der Urgemeinde des Propheten, deren politisches Profil ich ja schon beschrieben habe.

Nun zeigt sich in etlichen islamischen Ländern der Funke der demokratischen Revolution. Widerspricht das nicht Ihrer Analyse eklatant?

Kleine-Hartlage: Nein, ich darf daran erinnern, daß diese Ereignisse erst ein paar Wochen alt sind, und daß sich bereits die ersten Anzeichen für eine islamistische Wendung dieser Revolutionen andeuten, wie sich etwa an der Ermordung des polnischen Priesters Marek Rybinski in Tunesien zeigt. In der Türkei versucht man übrigens schon seit achtzig Jahren die Verwestlichung, und dennoch erleben wir seit Jahren eine galoppierende Re-Islamisierung. Keiner kann heute sagen, was aus den aktuellen Aufständen folgt. Ministerpräsident Erdogan jedenfalls hat einmal sinngemäß gesagt: Demokratie ist eine Straßenbahn, sie bringt uns ans Ziel – und dann steigen wir aus.

 

Manfred Kleine-Hartlage: befaßt sich seit Jahren in vergleichender Perspektive mit den religiösen Grundlagen menschlicher Gesellschaft, speziell des Islams. Der Berliner Sozialwissenschaftler, Jahrgang 1966, in der Fachrichtung Politische Wissenschaft legt mit seiner Studie „Das Dschihadsystem. Wie der Islam funktioniert“ (Resch-Verlag) die Ergebnisse seiner umfangreichen Arbeit vor und weist nach, wie sehr sich die Tiefenstruktur des Islam der europäischen Denkungsart entzieht. Daher könne dieser nicht mit abendländischen Maßstäben begriffen werden, weshalb westliche Konzepte wie Trennung von Religion und Politik, Pazifismus oder ein aufgeklärter Euro-Islam Fiktionen bleiben werden. Einsichten in seine Analysen gewährt Manfred Kleine-Hartlage jedoch nicht nur in diesem „augenöffnenden Buch“ (Sezession), sondern auch auf seinem Internet-Blog „Korrektheiten“.

 

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