© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/11 25. Februar 2011

Der Flaneur
Transparenz auf der Berlinale
Harald Harzheim

Berlin, Potsdamer Platz. Die Berlinale läuft auf vollen Touren. Gestreßte Journalisten stolpern die Treppen des Cinemaxx rauf und runter. Am frühen Nachmittag hat mancher schon drei Filme abgehakt. Zwischen den Pausen stürmt man benachbarte Cafés, improvisierte Presse-Lounges und malträtiert die Tastatur des Laptops. Zeichenzahl erreicht, auf „Senden“ drücken, fertig. Nächste Vorstellung.

Aber das Schlimmste dürfte sein, daß nirgendwo ein Ort des Rückzugs offensteht. Überall sieht man dich, deinen Streß, deine Müdigkeit, deine Erschöpfung. Nur der dunkle Kinoraum läßt gnädig in Anonymität versinken. Ohnehin ist Transparenz hier großgeschrieben: ganze Gebäudefassaden sind aus Glas. Arbeiten reicht da nicht, man muß seine Tätigkeit als öffentliche „Performance“ inszenieren – wie jene Make-up-Spezialistinnen, die Prominente vor dem Auftritt schminken. Deren Studio ist keineswegs hinter der Bühne versteckt, sondern in einem Glashäuschen, auf hohem Sockel, mitten auf dem Platz errichtet.

„Transparenz an sich ist bereits ein Wert, auch wenn es gar nichts zu sehen gibt.“

Dank zentraler Lage am Verkehrsknotenpunkt können Fußgängerscharen und Autofahrer den Schminkprozeß beobachten. Das Ganze ist eine Werbung der Firma „L’Oreal Paris“, deren Name fett auf dem Glashaus prangt, einer der vielen Berlinale-Sponsoren. Aber was, so fragt man sich, ist daran werbewirksam? Ist ein Schminkprozeß derart aufregend? Nur soviel wie der Schreibtischtäter im gläsernen Bürogebäude.

Nein, die Transparenz an sich ist bereits ein Wert, auch wenn es gar nichts zu sehen gibt. Ähnlich beim Datenmüll aus dem Internet, aus dem sich kaum Brauchbares folgern läßt. Aber der Mensch erhält durch totale Transparenz die Illusion, alles sehen, alles wissen zu dürfen. Eine göttliche Souveränität. Manche Hotels gewähren den Gästen inzwischen Einblick in die Küchen, zwingen das Personal zur öffentlichen „Koch-Performance“. Fazit: Überall Schauspieler, überall Filmfestivals ...

Das vornehmlichere Werk der Tapferkeit, vornehmlicher denn Angreifen, ist Standhalten.

Thomas von Aquin (1224 –1274)

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