© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/11 04. März 2011

Bange Blicke aufs Thermometer
Italien: Als Frontstaat fürchtet Rom den Exodus von bis zu 300.000 illegalen Migranten - Berlusconi warnt vor Fundamentalisten
Paola Bernardi

Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi zeigt sich besorgt: „Wir können nur hoffen, daß es nicht zu ungerechtfertigter Gewalt kommt und nicht zur Verbreitung des islamischen Fundamentalismus.“ Indessen gibt sich Außenminister Franco Frattini gereizt, nachdem die nördlichen EU-Staaten zwar zusätzliche Finanzhilfe und Bereitstellung von Material zugesichert haben, sich jedoch nicht verpflichten wollen,  Migranten aufzunehmen. Tatsächlich sehen die derzeitigen EU-Regeln vor, daß Asylgesuche und Rückschaffungen von den Ländern, in denen die Flüchtlinge ankommen, abgewickelt werden.

 Die Probleme drängen. Wie das Außenministerium in Rom bekanntgab, sind die im Jahr 2009 eingeführten italienisch-libyschen Patrouillen vor der Küste und in den libyschen Häfen wegen der blutigen Unruhen längst eingestellt worden.

Der Damm scheint damit endgültig gebrochen. Nach inoffiziellen Berichten stehen bereits Hunderte von Flüchtlingsbooten für eine Überfahrt von Libyen in Richtung Lampedusa oder Sizilien bereit. Italien erwartet einen nie dagewesenen Flüchtlingsstrom. Frattini spricht von 300.000 Flüchtlingen und nannte diesen Exodus „apokalyptisch“. Und in der Tat, Italien wird diesen Flüchtlingsansturm allein nicht bewältigen  können. Erst vor zwei Wochen mußte Rom den humanitären Notstand ausrufen, als 7.000 illegale Zuwanderer auf Lampedusa gestrandet waren.

Wie kein anderes EU-Land ist Italien mit Libyen verbunden. Über 500 Jahre gehörten Tripolitannien und die Cyrenaika zum Römischen Reich. 1911 wurde das Land vom Königreich Italien besetzt, bevor Mussolini es zur „Kolonie Italienisch-Libyen“ machte. Neben der historischen Verbundenheit zählt jedoch vor allem auch die wirtschaftliche Verflechtung. Öl war hauptsächlich das große Antriebsrad der italienischen Realpolitik. Ob Christdemokraten, Sozialisten oder Ex-Kommunisten, alle pilgerten zu Gaddafi. Und er wurde Italiens wichtigster Handelspartner. Intensiviert wurden diese Beziehungen vor allem im August 2008. Mit dem damals unterzeichneten Abkommen wollte Italien Libyen für die Kolonialherrschaft entschädigen und verpflichtete sich, über 25 Jahre hinweg fünf Milliarden Dollar in Form von Investitionen zu zahlen. Umgekehrt lieferte Gaddafi Öl und hielt für noch mehr Euro und mit weniger Skrupel die illegalen Migranten fern.

Dieser Pakt ist nun „außer Kraft“ (Frattini). Die Politik Italiens sieht sich gezwungen, sich neu zu justieren und starrt verängstigt auf das Thermometer und die Windverhältnisse über dem Mittelmeer.

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