© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/11 04. März 2011

Leiden und Läuterung
Kino: „In der Welt habt ihr Angst“ von Hans W. Geißendörfer
Ellen Kositza

Es ist sicher keine allzu reflexartige Assoziation, den Namen Hans W. Geißendörfer mit der „Lindenstraße“ in eins zu setzen. Die Großmutter aller Fernsehserien – seit über 25 Jahren schauen Millionen Deutsche sonntäglich die Folgen – verdankt dem altlinken Regisseur nicht allein ihre Erfindung und Produktion, sondern auch ihr ideelles Gerüst: Es dürfte kaum zu weit gegriffen sein, die Geburt des längst sprichwörtlichen Gutmenschentums auch dem Geiste Geißendörfers zuzuordnen.

Daß wir im neuen Kinofilm des bald 70jährigen Augsburgers nun einen ganz anderen Geißendörfer, einen religiösen gar, entdecken, wäre wohl zuviel gesagt. Daß sich hier – ein Effekt, den man aus manchem Film kennt – aufgrund einer hervorragenden Besetzung ein Filmprojekt von seinem Macher emanzipiert hat und dadurch hübsch ins Rollen kommt, wird man indes auch nicht behaupten können: Immerhin steht Geißendörfer hier wieder als Rundumverantwortlicher in der Bütt – für Regie, Drehbuch und Produktion. Und das Resultat ist in der Tat nett anzusehen.

Die dem Johannesevangelium entnommene Zeile „In der Welt habt ihr Angst“, der als Trostwort folgt „… aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“, bezeichnet eine der Bach-Kantaten, unter deren Schirm und Klang Eva (Anna Maria Mühe) aufgewachsen ist. Ihr Vater (gespielt vom Philosophen und Verleger Hanns Zischler) ist Pastor. Ein guter, konservativer Mann mit klaren Werten, der Eva nach dem Tod seiner Frau allein großzog. Nun ist die Studentin mit dem Musiker und Nichtsnutz Jo (Max von Thun, der für die Rolle zum Skelett abmagerte) liiert, der schon seit Jahren an der Nadel hängt. Um „ihm nahe zu sein“, spritzt sich auch Eva seit einiger Zeit das seligmachende Gift. Mit einer fulminanten Schwarzweißszene, die die umständliche, ja rituelle Vorbereitung auf den Schuß als Wandlung und Kommunion nachvollzieht, beginnt der Film.

Die beiden wollen aussteigen, sauber werden, raus aus dem Bamberger Altstadt-Idyll. Für den geplanten Flug ans andere Ende der Welt brauchen sie Geld, das keiner ihnen leihen will. Die Idee, es sich heimlich von einem Antiquar aus der Kasse zu „borgen“, scheitert blutig. Jo wird vor Ort festgenommen, Eva gelingt die Flucht.

Nachdem sie in einem Treppenhaus Ohrenzeugin eines bizarren Ehekrachs geworden ist (die „Lindenstraße“ läßt immer wieder grüßen!), setzt sie sich mit Waffengewalt in der Wohnung des Altphilologen Paul (Axel Prahl in seiner ersten Intellektuellen-Rolle) fest, der soeben von seiner untreuen Gattin (Kirsten Block) verlassen wurde. Geplagt von schlimmen Entzugserscheinungen hegen in den folgenden Tagen Jo – nach einem Suizidversuch mittlerweile in die Psychiatrie verlegt – und Eva voller Reue den gleichen Traum: den von der Freiheit, die ruhig einen bürgerlichen Anstrich haben darf: Denn daß Eva am Tag vor der Bluttat von ihrer Schwangerschaft erfuhr, werten die beiden Gestrandeten nicht als Fluch, sondern als Segen. Bei Paul, der nun gefesselt Eva ausgeliefert ist, liegen die Dinge anders. Sein Ehedrama geht auf eine Abtreibung zurück.

Als unverhoffter Segen erscheint ferner, daß jedermann ganz ohne Anklage wähnt, in Evas Schuld zu stehen: Der Vater, der Geliebte, obendrein Evas kreuzbraver, weiterhin verliebter Exfreund und schließlich sogar die Geisel Paul. Kann bei solcher Unterstützerwucht die Flucht vor dem Gesetz scheitern?

Hans W. Geißendörfer hat hier eine Leidens- und Läuterungsgeschichte inszeniert, die keineswegs frei von Kitsch und anderen Störgeräuschen ist, aber im ganzen doch so packend und voller inniger Momente ist, wie sie dem „Lindenstraßen“-Zuschauer notorisch vorenthalten werden. Die Schauspieler – und dabei am wenigsten Anna Maria Mühe, der eine bisweilen enervierende Naivität ins Drehbuch geschrieben wurde – dürfen hierbei als wahre Charakterdarsteller reüssieren, die, ohne je ins Klischee zu rutschen, Phänotypen unserer Zeit markieren. Gerade Nebenfiguren wie Kirsten Block (mit der wohlfeilen Befreiungsrhetorik einer Frau in den Wechseljahren) und Johannes Allmayer (der Ex, der sich nichts sehnlicher wünscht als ein abenteuerliches Herz) brillieren hier.

„In der Welt habt ihr Angst“ ist weitgehend ohne die hierzulande üblichen Fördermittel ausgekommen. Geißendörfer meint, die ablehnende Haltung der entsprechenden Gremien habe an der Junkie-Thematik gelegen. Mag sein: Heroin-Opfer, das ist Stoff der achtziger Jahre, und danach klingt auch des Regisseurs Antwort auf die Frage nach der Filmidee. Seine Frau und er, Eltern dreier Töchter, hätten „immer nur eine Sorge gehabt: Wenn sie sich verlieben und der Mann ist ein Drogenabhängiger (…), das wäre schlimm.“

Vielleicht ist es ja tatsächlich so, daß sich 25 Jahre lindenstraßiger Indoktrinationsschwung mit einem gerüttelt Maß an Arglosigkeit erklären lassen und nicht allein mit linker Verbissenheit. Jedenfalls: ein schöner Film.

Foto: Drogenjunkie Jo (Max von Thun) mit seiner Freundin Eva (Anna Maria Mühe): Traum von Freiheit

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